Lulus Unterbauch

Mit Filmen wie „Attenberg“ und „Chevalier“ hat Athina Rachel Tsangari international auf sich aufmerksam gemacht. Bei den Salzburger Festspielen wird die gefeierte Filmregisseurin erstmals Wedekinds „Lulu“ für die Bühne inszenieren – ein Risiko, aber angesichts der Klasse ihrer Filme ein durchaus kalkuliertes. Mit vision.salzburg sprach sie über soziale Substanz und Kontrollverlust.

 

Sie sind Filmregisseurin. Nun inszenieren sie erstmals auf einer Bühne. Ist der Zugang eines Theaterregisseurs ein anderer?

Der große Unterschied ist die Kontrolle: Mit der Kamera kann man so nah ran oder so weit weg gehen, wie man will, man kann den Blick und die Augen, die Größe oder Kleinheit kontrollieren, den Ausschnitt und die exakte Form im Ausschnitt manipulieren. Im Theater ist der Zuschauer die Linse. Der Zuseher hat immer das große Bild und das kleine und kann entscheiden. Die Freiheit liegt also im Auge des Betrachters, es ist nicht so stark kontrolliert wie im Film, wo ich als Regisseurin immer die volle Kontrolle darüber habe, was im Frame, im Close Up ist und was nicht.

 

Ist das, was Sie vor ihrem inneren Auge hatten, als Sie zusagten, Lulu zu inszenieren, anders als das, wohin es sich jetzt nach den ersten Proben bewegt?

Ja, sehr. Ich habe mich anfangs erst mal auf die Tribüne gesetzt, um mir das aus den Augen des Zusehers anzusehen, die physische Qualität des Platzes zu erfahren und mich mit der Tatsache anzufreunden, dass ich die Linse nicht kontrollieren kann.

 

Also geht es darum zu lernen, wie man mit dem Verlust von Kontrolle klarkommt?

Es sind unterschiedliche Formen von Kontrolle. Als Regisseur musst du Kontrolle haben. Es geht darum zu kontrollieren und imaginieren und dadurch die Realität zu vergrößern, sie zu verstärken. Ich arbeite viel mit Close Ups. Für mich geht es also ganz wesentlich darum, damit klarzukommen, keine Möglichkeit für Close Ups mehr zu haben. Das ist eine Herausforderung

 

Wie kompensieren Sie den Mangel?

Durch Performance. Die Fokussierung passiert durch die Darbietung des Schauspielers, durch Stimme und Spiel dieser wunderbaren Geschöpfe. Das ist die Magie des Theaters: Das große und das kleine Universum, diese multiplen Schichten von Intimität und Nähe zu kreieren, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, etwas zu erfahren. Nachdem ich zwanzig Jahre fürs Kino gearbeitet habe, fühle ich mich durch diese Möglichkeiten des Theaters unfassbar inspiriert und belebt. Neue Fragen tauchen auf, neue Möglichkeiten ergeben sich. Dass ich mir all diese Fragen stellen kann, ist eine große Chance.

 

War diese angedeutete Challenge der Hauptgrund, dass Sie das Angebot, die Lulu zu inszenieren, angenommen haben?

Auch, aber nicht nur. Ein wenig ist es auch Schicksal. Ich habe mit Theater begonnen, die griechische Tragödie studiert, und damals eigentlich gedacht, ich würde einmal Theaterregisseurin werden. Nachdem ich nach New York ging, hat mich aber der Film, wenn man so will, gefesselt und einkassiert. Das Theater aber hab´ ich niemals vergessen. Es ist also ein bisschen wie eine Rückkehr zu meinen Wurzeln, zu einem Beginn, den ich nie wirklich weiterverfolgt habe.

 

Waren Sie mit Lulu vertraut? Kannten Sie das Stück?

Ja. Ich habe es ein paar Mal gesehen und war erst einmal geschockt, als ich gefragt wurde.

 

Warum?

Weil es eines der schwierigsten Stücke ist, die ich je gesehen habe. So viele Leute haben daran gearbeitet. Und es ist umso schwieriger für mich, als ich so viele verschiedene Versionen davon gesehen habe. Ich war also hin- und hergerissen zwischen Chance und Angst, wie ich die Geschichte über dieser Frau ins 21. Jahrhundert transferieren soll – noch dazu in einer Sprache, die ich nicht verstehe, nicht spreche.

 

Wie lösen Sie das Dilemma?

Wedekind hatte diese Hassliebe mit ihr, glaube ich. Am Ende weiß eigentlich niemand, was Lulu wirklich denkt. Deshalb gibt es so viele Versionen darüber, Mutmaßungen, was oder wer sie ist. ich wäre nicht daran jnteressiert, nur das, was Wedekind schrieb, auf die Bühne zu bringen. Das wäre mir zu wenig. Ich muss meine Version, meine Leseart auf die Bühne kriegen.

 

Erzählen Sie mir Ihre Version?

Das Großartige an Lulu ist, dass sie alles und nichts zugleich sein kann. ihre Position in Wedekinds Welt ist so etwas wie ein Spiegel, der den Leuten ihr Begehren, ihre Angst und ihren Neid vor Augen führt. Todessehnsüchte, Masochismus und Sadismus.

Für mich ist Wedekind, so wie er schreibt, kein Realist, auch kein Naturalist, er ist einfach er selbst. Und genauso hat er Brecht und Beckett vorweggenommen. Nun geht es darum, die Fragen zu stellen: Wer ist Lulu heute, in unserer Welt? Als Femme Fatal, als Opfer, als Täter?

 

Warum lässt Lulu diesen Strudel aus Hass, Sex und Niedertracht nicht einfach hinter sich und haut ab?

Sie ist in der Falle, weil sie nur Sinn in dem System, in dem sie ist, Sinn macht. Sie ist mit jemandem, gleichzeitig ist sie mit jemandem anderen und hat dadurch Macht. Sie braucht ein Dreieck, um zu funktionieren und sich sicher zu fühlen. Warum sollte sie das verlassen?

 

Zugleich ahnt man doch aber, dass es genau dieses Dreieck sein wird, das ihr zum Verhängnis werden wird.

Ja, aber das ist das Geniale an Wedekind: Dass er all die Fragen stellt, aber keine Antworten gibt. Man weiß nicht, wer diese Leute sind. Man kann unheimlich viel in sie reinprojizieren. Alwa, Geschwitz sind Prototypen moderner Menschen.

 

Könnte man das Stück als Statement für soziales Versagen lesen?

Unbedingt, und genau das ist es auch, warum es heute noch so relevant ist. Das Stück ist ganz eindeutig über Konsum. Es geht darum, jemanden zu konsumieren. Sobald der andere dir gehört, willst du ihn nicht mehr. Das ist die Basis der Konsumlust. Sobald Lulu einen Liebhaber hat, will sie einen anderen. Aber die Männer agieren genau gleich. Gleichzeitig sind sie alle Fremde. Man weiß nur, welchen Jobs sie nachgehen, sonst nichts. Weil sie alles besessen von Lulu sind. Lulu ist diese Lust nach etwas. Am Ende ist es aber nicht wichtig, wer oder was sie ist. Es geht um diesen tierischen Antrieb zu erobern. Menschen werden zu Gefäßen oder Projektionsflächen für Konsuminteressen degradiert. Es geht darum, wie man das Menschliche und die soziale Substanz verliert.

 

Wieso arbeiten Sie mit drei verschiedenen Lulus?

Weil ich mit einem Dreieck als Organisationsprinzip arbeiten wollte. Das Prinzip des Dreiecks interessiert mich ganz generell. In jeder Zweierberziehung gibt es einen Dritten.

Und: Lulu ist unfassbar einsam. Wenn sie zu dritt sind, können ihr die anderen beiden beistehen

 

Sie wollten ihr also einen Gefallen tun?

Ja. Ich hab ihr eine kleine Familie gegeben, zwei Zwillingsschwestern.

 

In einem Dialog mit Alwa sagt Lulu: „Warum schreibst du deine Dramen nicht wenigstens so interessant wie das Leben ist?“ Er antwortet: „Niemand würde das glauben.“ Muss gute Literatur, gute Kunst immer ein wenig phantastisch sein, damit wir sie überhaupt glauben können? Was ist ihre Erfahrung mit Realismus und Illusion? Was funktioniert?

Ich arbeite nie mit 100%iger Realität. Mein Realismus ist einer, der 30 Grad von der Realität abweicht. Da ist immer diese leichte Abweichung. Das kann man weder phantastisch noch realistisch nennen. Idiosynkratischen Naturalismus würde ich das nennen. Ich weiß auch gar nicht, was es im Jahr 2017 bedeutet, realistisch zu sein. Wo wir doch jeden Moment unseres Lebens in multiplen Realitäten leben. Wir schauen uns an, gleichzeitig schauen wir auf unsere Bildschirme. Was ist da reell und was nicht? Es gibt zu viele Bildschirme und zu viele Linsen. Im Kino wurde ich immer nach dem Plot gefragt. Als ob der das Wichtigste wäre. Dabei ist die wichtigste Frage ist nicht die nach dem Plot, sondern wie dieser Plot, die vordergründige Erzählung also, den Unterbauch, der den Kern deiner Existenz betrifft, stützt.

 

Was ist der Unterbauch von Lulu?

Die vordergründige Geschichte ist klar: Eine Frau wird – Cliché männlicher Phantasie – so begehrt, dass sie zur Zerstörerin wird. Mich interessiert aber, was es für sie bedeutet, gleichzeitig das Objekt der Begierde und Zerrstörerin zu sein. Ich will es für sie herausfinden.

 

Vielen Dank für das Gespräch.