Das Streben nach Glück

Franz Schuh, einer der profiliertesten Essayisten des Landes. In seinem aktuellen Werk „Fortuna“ beschäftigt er sich mit dem Glück. Ein Gespräch über feierliche Einsamkeit, Zeitgeiz und das unerträgliche Glück der anderen.

 

In Ihrem aktuellen Buch „Fortuna“ fand ich einen der schönsten Sätze, den ich seit langem gelesen habe.

Das muss ein Zitat sein.

 

Nein.

Jetzt bin ich aber gespannt.

 

Er lautet: „Mich befiel eine Einsamkeit, mit der ich glücklich war, weil sie am Ende einer feierlichen Stimmung doch sehr nahekam.“ Das klingt ein wenig, als habe sich ein heilloser

Melancholiker mit seiner Sicht der Dinge abgefunden.

Nein, abgefunden habe ich mich mit gar nichts. Ich habe ja auch keine Abfindung kassiert. Der Gedanke liegt anderswo: Dass Feierlichkeit unter Umständen nur gegen das funktioniert, was als kollektive Festlichkeit auftritt. Der wahre Karneval ist also das, was ein Mensch mit sich selber haben kann, wenn er angesichts der Verhältnisse diese lustig findet. Aber mit dem Traurigsein ist es genauso: In der Einsamkeit ist ein Feierlichkeitsgefühl möglich, das nervös im Kollektiv nur vorgetäuscht wird.

 

Ein Buch über etwas so Unfassbares wie Glück zu schreiben, klingt erst mal nach einem gewaltigen Eigentor. Hat es sich als solches erwiesen? Wie schwer war es, sich diesem Phänomen anzunähern?

Bei dieser Glücksgeschichte wird immer ein und derselbe Fehler gemacht: Dass es ein Problem sei, dass sich niemand drauf einigen kann, was Glück ist. Das ist ein Fehler, weil gerade die Stärke des Glücks in Form und Inhalt darin besteht, ein pluralistischer Begriff zu sein. Da muss man den Philosophen Hans Blumenberg zitieren, der das sehr eingängig dargestellt hat: „Würden wir wissen, was das Glück ist, würden wir Idioten uns alle dort anstellen“. Dass wir es eben nicht wissen bzw. uns nicht darauf einigen können, ist gerade das Wunderbare.

 

Hat sie die Beschäftigung mit dieser enormen Vielfalt schlauer gemacht, ja vielleicht sogar dem persönlichen Glück nähergebracht?

Das ist der zweite Irrtum: Dass ein Theoretiker des Glücks naturgemäß jemand sein muss, der entweder besonders glücklich oder besonders unglücklich ist. Dem ist nicht so. Mich interessiert am Glück, dass jeder, der darüber nachdenkt und sich dazu äußert, zugleich ein Konzept hat, oder nennen wir es Menschenbild, eine gedankliche Programmierung, in deren Rahmen er dies oder jenes Glück nennt. Mich interessieren die Gedankenkonzepte einschließlich des Konzeptes, dass man vom Glück überhaupt nichts hören will, weil es angeblich eine spießige Angelegenheit sei.

 

Die heute sehr populären Lebensratgeber beanspruchen meistens für sich, den einen Weg zum Glück parat zu haben. Versteht sich Ihr Buch in seiner bewussten Vielfalt als Gegenentwurf zum modernen Lebensratgeber?

Ich habe zu Lebensratgebern eine neutrale Meinung, aber was mir auffällt ist, dass die meisten ein geradezu mechanisches Weltbild haben: Die Argumentation beispielsweise, wonach der Alltag eine quälende Last sei. Also, sagt der Lebensratgeber, muss man etwas anders machen als bisher. Man muss – und diese Absurdität habe ich tatsächlich gehört und sie ist auf ihre Art auch unfreiwillig witzig – morgens mit einer anderen Zahnbürste die Zähne putzen, dann beginnt die Veränderung. Und durch das Anderssein ist der Alltag nicht mehr die Last, die er vorher war. Dahinter steckt ein mechanisches Anstoßdenken. Man müsse den Leuten nur Anstoß geben, dann ändert sich etwas. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist die Ratgeberschaft der Versuch, Abstraktionen direkt auf reale Situationen anzuwenden, und das fällt ziemlich ideologisch aus. Ideologie aber ist notwendig falsches Bewusstsein. Es fehlt die Einsicht ins andere Menschenleben.

 

Sie zitieren Aristoteles, der sinngemäß gesagt hat, wenn man ihn fragen würde, was uns alle eint, dann wäre es das Streben nach Glück. Andererseits schreiben Sie, dass es das Glück ist, das uns Menschen voneinander trennt, weil die wenigsten glücklich sind. Ist das nicht geradezu absurd?

Das ist im Augenblick leider eine ganz wesentliche Geschichte: Das Glück, das die anderen haben, ist für manche die Ursache des eigenen Unglücks. Man erträgt das Glück der anderen nicht.

 

Spielen Sie da auf die so genannten „Abgehängten“ an?

Nein, ich liebe die Abgehängten. Ich bin ja selber einer. Ich spiele auf etwas an, was Abgehängte genauso haben können wie Insider: Ressentiments. In der gesellschaftlichen Hierarchie ist einer immer stärker als der andere. Die Befürchtung, ein anderer sei stärker als man selbst, ist in jeder Situation dieser Konkurrenzgesellschaft präsent. Also jeder kann sozusagen ein Ressentiment erleiden. Dass nur die Abgehängtem die so genannten Modernisierungsverlierer, diese Eigenschaften hätten, ist schlicht falsch. Wenn ich manche Bankdirektoren reden höre, findet man dieses Gefühl, von der Politik zurückgesetzt zu sein, genauso. Die reagieren genauso ressentimentgeladen, wie man das bei uns Abgehängten findet. Und es gibt durchaus Angehängte, die mit sich gut umgehen können und den Ressentiment-Anteil, den ihre Seele natürlich auch hat, zivilisieren. Ich halte Ressentiments für unausbleiblich.

 

Gehen wir zum zwischenmenschlichen Glück: „Jeder bringt für sich die Zutaten fürs Glück mit“ schreiben Sie. Mitunter aber stelle sich bei näherer Betrachtung heraus, dass die Zutaten zu verschiedenen Arten von Glück gehören. Was bringt einer Beziehung Glück? Ist es das ständige Abgleichen, ob man noch eine kongruente Vorstellung von Glück hat?

Seltsamerweise glaube ich, dass es genau das ist, was tatsächlich passiert. Das Abgleichen passiert allerdings nicht in Form von Listen, die man frühmorgens gemeinsam abhakt, sondern es gibt eine bewusst unbewusste Strategie, bei der man erkundet, ob das, was man selbst für Glück hält, vom anderen mitvertreten wird oder noch eine Entsprechung findet. Und in diesen Zusammenhängen muss man auch zur Kenntnis nehmen, befinden sich sehr viele Risse. Da kann man viele Risse bemerken.

Ein Psychologe wie Ronald Laing hat so manche Konstellation aufgezeigt, aus denen man plausibel entnehmen kann, wie es aussieht, wenn es nicht funktioniert: Ein Ehepaar fährt z.B. auf Hochzeitsreise und das Paar zerstreitet sich hoffnungslos. Warum? Weil er die Vorstellung hatte: Jetzt bin ich verheiratet. Jetzt kann ich endlich mit meiner Frau in die Öffentlichkeit gehen. Und sie hatte die Vorstellung: Jetzt bin ich verheiratet. Jetzt kann ich endlich mit meinem Mann allein sein. Solche plumpen Gegensätze können sich entfalten. Die Risse, die entstehen sind viel subtiler. Dafür haben wir dramatische Literatur, die diese feinen Risse genau zeigen kann.

 

Sie beschreiben den „Zeitgeiz“, d.h. den aktuellen Drang, möglichst jede Stunde mit Aktivität vollzustopfen, was Sie als lebendfeindlich und widerwärtig empfinden.

Ist es dieser Zeitgeiz, der uns am Glück hindert? Oder umgekehrt: Kann der verschwenderische Umgang mit Zeit Glück bedeuten?

Nur dann, wenn das schlechte Gewissen wegfällt. Da gibt es diese Geschichte von Botho Strauß, in der ältere Damen Unmengen an Kuchen in sich hineinstopfen, dabei allerdings kein Glück empfinden, weil sie ein schlechtes Gewissen plagt. Diese Mischung aus Genuss und schlechtem Gewissen ist besonders bei Alkoholikern stark ausgeprägt. Sie sind traurig, weil sie getrunken haben. Und weil sie traurig sind, trinken sie weiter. Das ist eine verdammte Falle.

 

Im Buch streifen Sie auch unseren merkwürdigen Umgang mit Sucht, der sich durch

Ausschlussfreudigkeit und Diskriminierungslust auszeichnet: Zuerst hat man sich die Raucher vorgeknöpft, dann kamen die Fettleibigen an die Reihe, und irgendwann sind es dann die, die zu viel arbeiten und deshalb Burn Out bekommen. Auch die kosten Geld. Wo hört diese Entwicklung auf?

Das ist ein hochinteressantes Phänomen. Je komplexer die Gesellschaften sind, desto mehr leiden sie an dieser Urteilskrankheit, wie Canetti es nannte. Das hat den Sinn, die Massen in übersichtliche Einheiten zu ordnen, indem man sie in Gut und schlecht einteilt. In gewisser Weise ist es unvermeidlich, dass man Gruppen von den anderen unterscheidet. Aber in dieser Unterscheidung gibt es Möglichkeiten, die anderen so darzustellen, dass sie einem vernichtenswert erscheinen. Es entstehen immer neue Gruppen, die man verachten kann. In Wahrheit hasst man nur sich selbst und projiziert sich selbst in die anderen, um sich selbst richtig hassen zu können, ohne von den Folgen des Hasses betroffen zu sein. Das halte ich für ebenso unvermeidlich wie das Ressentiment. Das einzige, was man tun kann, ist einen zivilisierten Umgang damit pflegen.

 

Sie zitieren Michel Agier, der besagt, die herrschende Migrationspolitik diene der Festigung einer Aufteilung in zwei große Weltteile: Auf der einen Seite eine saubere sichtbare Welt, auf der anderen die Welt des dunklen, kranken und unsichtbaren Rests.

Das Schrecklich daran ist: Wenn man die Formulierungen prüft, dann kommt tatsächlich wieder das Lager vor. Es besteht die Vorstellung, man müsse Menschen in einer umzäunten Umgebung zusammensammeln und dort halten und ordnen, damit sie nicht die eigene Ordnung, die man angestrengt hat, untergraben.

 

Ist auch das unvermeidbar?

Nein, das halte ich nicht für unvermeidbar. Das muss man politisch bekämpfen, indem man klarmacht, was die Leute da sagen. Die Unerträglichkeit besteht ja darin, dass nur ganz wenige wissen, dass das die Wiederauferstehung einer Art von Lagermentalität ist, von der man nicht geglaubt hat, dass sie noch einmal in Form eines Sachzwangdenkens revitalisierbar ist.

 

Vielen Dank für das Gespräch