Ins Herz der Krise

Was tun, wenn man das Angebot erhält, auf Trumps Inauguration zu spielen? Schlägt man das Angebot aus oder nutzt man die Situation für die eigene Botschaft? Mozart entschied bei der Krönung Kaiser Leopold II. zum König von Böhmen für letzteres und lieferte mit seiner Oper „La Clemeza di Tito“ einen letzten revolutionären Akt oder – wie die Kaiserin anlässlich der Uraufführung gesagt haben soll – „una porcheria tedesca“ (eine deutsche Schweinerei).

Starregisseur Peter Sellars über den Provokateur Mozart, das Ende der Kriegskunst und die große Dosis Wahrheit, die unsere Gesellschaft braucht.

 

Für jedes absolutistische Regime war die Todesstrafe das Instrument für ihren Machterhalt. Und dann kommt da ein Komponist mit einer Krönungsoper, die Vergebung statt Vergeltung zelebriert. Das muss sich für die herrschenden Klasse wie ein Schlag ins Gesicht angefühlt haben. Wie provokant war „La Clemenca“. Wie provokativ war sie gemeint?

Das ist eine schon im römischen Kontext komplexe Geschichte. Denken Sie an Senecas Abhandlung über Vergebung, geschrieben für seinen Schüler Nero. Oder Julius Cäsar, der die erste Person war, die Vergebung zu einem richtigen Programm machte und folgerichtig einem Attentat zum Opfer fiel. In Mozarts Fall befinden wir uns mitten in der Französischen Revolution: Der gewaltsame Umsturz der alten Machtverhältnisse ist ein paar Monate alt und kulminiert in einem Blutbad.

Das lässt sich durchaus mit der Situation vergleichen, in der sich die USA und Europa gerade befinden. Man fühlt sich durch terroristische Attacken bedroht. Aber wie reagiert man auf den Terrorismus? Und auf einer höheren Ebene gefragt: Wer sind diese Leute, die einen attackieren? Was hoffen sie damit zu bewirken und natürlich: Wer ist in unserer heutigen Welt tatsächlich bedroht? Das sind die wirklich wichtigen Fragen – heute, im alten Rom und zu Mozarts Zeit. Also ja, das ist ein sehr seltsames Geschenk für eine Krönung, weile es wirklich alles problematisiert und auch bereits das Ende des Regimes erahnen lässt. Allein die Idee, das Publikum in die Pause zu schicken, nachdem der Herrscher gemeuchelt wurde und das Kapitol in Flammen steht. (lacht) „Ladies and Gentelemen, bitte genießen Sie jetzt Ihre Cocktails!“ Das ist natürlich extrem provokant.

 

Es gibt dieses Klischee über die Opera Seria, wonach sie hauptsächlich dazu diene, dem herrschenden Diktator zu huldigen. Würden Sie sagen, in „La Clemenca di Tito“ ist das genaue Gegenteil der Fall?

Ja, würde ich. Die großen Komponisten der Opera Seria legten den Finger immer in die Wunde, gingen ins Herz der Krise. Die meisten dieser Opern sind auch sehr ernst, schließlich geht es – woran uns Herr Trump gerade erinnert – um Leben- und Tod-Fragen für Millionen von Menschen. Was ist eine kleine privilegierte Unterhaltung, wie wir sie gerade führen – gegen die Millionen von Menschen, die in meinem Land in ständiger Angst leben?

 

Sie meinen jene Familien, die durch willkürliche Abschiebungen auseinandergerissen werden?

Genau die. Normale und feine Menschen. Diese muslimischen oder mexikanischen Familien leben jede Minute ihres Tages in Angst. Diese Konsequenzen meine ich.

Die Opera Seria wurde erfunden, um die tiefen emotionalen Zustände hinter einem Dekret oder einem Edikt zu untersuchen. Eine politische Geste ist ja nie nur politisch, sondern sie hat immer tiefste Konsequenzen im Gefühlsleben der Menschen. Die Opera Seria wurde erfunden, um diesen emotionalen Raum zu betreten und die Illusion, es handle sich um eine rein politische Debatte, zu beleuchten. In den langen Arien für Vitella und Titus führt uns Schritt für Schritt zur Erkenntnis, dass es bald keine Blumen und keinen Luxus, wie ihn die Macht einmal kannte, mehr geben wird. Dass Autokratie keine Zukunft hat, in Wirklichkeit nie hatte und etwas anderes erfunden werden muss.

 

Mozart – ein überzeugter Europäer und Demokrat, der uns lehren will, wie wir mit Krisen umzugehen haben?

Mozart gehört einer aufgeklärten Generation an, die weiß, was es bedeutet europäisch zu sein, Prinzipien der beginnenden Demokratie in sich zu tragen und zu verstehen, dass alle Teile des Systems in Balance und Kommunikation zueinander sein müssen

Als US-Amerikaner bin mir sehr bewusst, dass George W. Bush nach den Ereignissen von 9/11 eine Serie von Kriegen gegen Terror begonnen, die nie und nimmer gewonnen werden können.

Diese Mozartoper bietet die Gelegenheit, diese Situation noch einmal zu untersuchen – und zwar ohne das Licht reißerischer Überschriften. Ich hoffe, dass Europa keinen der Fehler, die mein Land nach 9/11 begangen hat, wiederholt.

 

Wie stehen die Chancen?

Ich bin sehr bewegt davon, wie Berlin auf die Anschläge beim Weihnachtsmarkt reagiert hat.

Man hat eben nicht überreagiert, sondern an seiner Ausgeglichenheit und den eigenen Prinzipien festgehalten. Die Ereignisse von Paris und Brüssel aber werfen die Frage auf, die Europa in Zukunft am meisten beschäftigen wird: Führt das alles zu einem „Backlash“ oder macht es den Weg frei in eine offenere, integrativere und engagiertere Gesellschaft ?

 

Ist die Vergebung, die Mozart propagiert, etwas, das weit über die demokratischen Prinzipien hinausgeht?

Es ist das Prinzip der Menschlichkeit. Denn natürlich ist es schwer jemandem zu vergeben, der versucht hat einen umzubringen. Das ist nichts, wo sich leichtfertig sagen lässt: „Ach, vergessen wir´s einfach.“ So etwas kann man nicht vergessen, und das Vergessen ist auch nicht das Problem. Sich damit zu beschäftigen, ist das Problem. Denn jemand, der dich umbringen will, hat einen Grund. Die Frage ist also: Kann ich mich mit den Gründen beschäftigen? Kann ich hinter den Gewaltakt auf das Leben schauen, das zu diesem Gewaltakt geführt hat? Und können wir daraus etwas formen, das aus gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Anerkennung besteht.

 

Ein Journalist, der seine Frau bei den Anschlägen von Paris seine Frau verlor, hat einen Brief geschrieben, der später zum Buch mit dem Titel „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ wurde – auch eine fast unbegreifliche Großzügigkeit. Sehen Sie, was die Dimension des Vergebens anbelangt, Parallelen zu „la Clemenca“?

Vergebung ist Mozarts Projekt innerhalb der Oper. es gibt nicht eine, die nicht davon handeln würde, wie man Dinge vergibt, wegen derer Leute beschämt sind oder mit denen sie sich oder ihre Nächsten wirklich beschädigt haben. Sie handeln alle davon.

 

Wie große ist die Gefahr, in der sich der Humanismus aktuell befindet?

In meinem Land sieht man, wie verhärtet die Menschen teilweise sind, und der „Backlash“ entpuppt sich als totale Katastrophe. Der kann nie die Antwort sein. Wie soll eine einmarschierende Armee Frieden bringen? Jedes Mal, wenn du ein muslimisches Dorf mit einer Drohne bombardierst, erzeugst du drei Generationen von Leuten, die dich dafür hassen.

Das Problem ist – und das zeigt sich ganz gut an der US-amerikanischen Außenpolitik der letzten Jahre – dass die einzige Antwort auf Gewalt die ist, noch mehr Gewalt anzuwenden. Die Künste des Krieges haben einen Stillstand erreicht, weil sie so ineffektiv sind und wir nicht einen Konflikt durch Krieg lösen konnten. Die Zeit ist gekommen, sich mit den Künsten des Friedens zu beschäftigen. Und wenn wir Künste sagen, dass meinen wir damit etwas, das Fähigkeiten verlangt, echte Zuwendung, Aufmerksamkeit, etwas, das unfassbare Fokussierung und Konzentration braucht und Einsicht. All das assoziieren wir mit Kunst.

Und all das war auch der Grund, weshalb Mozart so etwas Gestriges

wie die Opera Seria, die damals viele für ein Relikt vergangener Zeiten hielten, dafür verwendet hat, um das zu tun, was schon Händel, den er sehr bewunderte, getan hat.

In den großen Da Capo Arien nämlich zu zeigen, wie viel inneres Leben hinter den Entscheidungen dahinter und auf dem Spiel steht und wie sehr

Für mich ist es die Möglichkeit, eine europäische Krise mit dem Gedankengut eines der größten europäischen Denker zu konfrontieren: Mozart

 

Sehen Sie la Clemenca als didaktisches Stück über Macht und Ohnmacht

Man wird sehr leicht an Leute wie Havel oder Mandela erinnert, die auf diesem Planeten eine neue Art von Regentschaft etabliert haben. Das „Truth and Reconciliation“ stammt von Mozart. Und genau das brauchen wir auch jetzt wieder. Zuallererst braucht es eine große Dosis Wahrheit, weil es so unfassbar viel gibt, was von vielen Seiten nicht zugegeben wird. Der erste Schritt wäre, mit diesen vielen Wahrheiten ans Licht zu kommen, um sie auch in Relation zueinander zu verstehen. Das ist ja auch die Basis der Sonate Wiener Stils: Einander widersprechende Ideen zu nehmen und sie aufeinander abzustimmen. Dass ist das Herz von Mozart, Haydn und Beethovens musikalischer Sprache und das ist auch das Projekt, dem sich unsere Gesellschaft gegenübersieht.

 

Mozart starb nur zwei Wochen nach der Uraufführung von „La Clemenza“. Spielt die Vorahnung des eigenen Todes eine Rolle?

Eine große sogar. Als Mozart die Musik zu „La Clemenca“ komponierte, wusste er, dass sein Leben bald zu Ende sein würde. Er arbeitete daran mit seinem buchstäblich letzten Atem. und es ist kein Zufall, dass das Stück nicht wirklich endet. Es stoppt. Der finale Akt ist um das Wort „Troncate“ gestrickt. „Schneidet mein Leben ab, schneidet es ab“ wird abwechselnd von Titus und dann dem Chor immer und immer wieder wiederholt. La Clamenca ist wie andere letzte Arbeiten Mozarts auch ein spirituelle Dokument.

Aber natürlich ist es auch ein Schock, wenn Titus einen Schritt auf das Publikum zumacht, und in diesem Mandelaschen Sinne sagt, dass er nicht mehr Präsident sein wolle. „Ich will Wahlen“, sagt er, „und ich will, dass ihr die Dinge in einem Sinne weiterentwickelt, zu dem ich nicht fähig bin. Das ist für mich ganz klar eine große Geste und auch der Grund, weshalb Mozart den Auftrag für die Oper angenommen hat.

 

Denken Sie, das war der letzte revolutionäre Akt: Dazu aufzurufen, nicht nach Vergeltung zu schreien, sondern innezuhalten, zu überlegen und dann zu vergeben?

Ja, und die monströsen Menschen, die einen umgeben, nicht einfach zu hassen, sondern ihre Psychosen und Verletzungen zu sehen. Das ist das wahrhaft Revolutionäre im Sinne einer Menschlichkeit.

 

Dieser Moment, in dem Titus realisiert, dass er auch das Unverzeihliche verzeihen muss. Sehen Sie das als die Schlüsselszene der Oper?

Ja, das ist sehr stark. Wenn er realisiert, dass er und die Monarchie nicht mehr länger aufrechtzuerhalten sind, und dass es falsch wäre, Leute zu töten, Bomben zu werfen oder das Kapitol anzuzünden. Dass sich auch etwas nach vorne bewegen muss in der Geschichte und dass sich die Jugend, wenn man ihr das nicht friedlich zubilligt, wohl einen kriegerischen Weg suchen wird. Was die letzten Szenen so stark macht, ist einerseits die Vergebung, andererseits aber auch die Einsicht, dass das Problem mit einem selbst zu tun hat, was Titus so natürlich nicht erwartet hat.

 

Wenn man diesen Akt der Vergebung in einer Welt zu propagieren versucht, die exakt das Gegenteil, nämlich Hass und Vergeltung, predigt – macht einen das nicht zu einem der einsamsten Menschen auf diesem Planeten?

Ja, das macht ihn in der Tat einsam. ich glaube, dass das aber auch viel mit Mozart selbst zu tun hat, mit dem Umstand, dass Constanze ihn verlassen und mit Süßmayer etwas angefangen hat. Wir wissen nicht, was genau zwischen ihm und Konstanze ablief, aber klar ist, dass ihm die Frau, die er so liebte, eine Menge unerträglicher Schmerz zufügte. Was auch immer sie voneinander trennte, die Oper zeichnet ein sehr intensives Portrait dieser beiden verzweifelten Menschen: Titus auf der einen und Vitalia auf der anderen

Vitalia hat ganz klar ihre Gründe, weshalb sie verletzt hat und das Gefühl, nicht gut behandelt worden zu sein.Und da geht Mozart sehr ins Detail, um das Po rtrait einer Frau zu entwerfen, die fühlt nicht gut behandelt worden zu sein und den Mann, von dem sie denkt, dass er sie nicht gut behandelt hat, verletzen will. Die Oper geht da so ins Detail, dass man es nicht leugnen kann, dass Mozart das sehr persönlich genommen hat. Mozarts Schmerz und sein Bewusstsein dafür sind sehr ergreifend. Die beiden Portraits haben beide sehr viel mit Einsamkeit zu tun. Es geht um zwei Menschen, die eine Beziehung hätten haben können. Jetzt stirbt der eine und Suessmayer kann kommen, seine Werke vollenden und der Partner seiner Frau werden.

 

Frage

Titus war nicht einfach ein Opernprojekt. Es ging weit über Oper hinaus und ich glaube das war etwas, was von der Opernwelt damals nicht verstanden werden konnte.

Genau wie Idomeneo Titus ist „La Clemenca“ nicht fertig geworden. Und obwohl sich so viele tolle Dinge darin finden, ist es ein Fragment geblieben. Man muss die Oper betrachten und sich vor Augen führen, was Mozart damit erreichen wollte, obwohl er von vorneherein nicht die Bedingungen hatte, es zu erreichen.

Wie bei Idomeneo, dessen dritter Akt de facto länger als Mahlers dritte Symphonie ist, wie Simon Rattle einmal richtig anmerkte, als wir Idomeneo gemeinsam machten,

Der Ehrgeiz war enorm. Man muss diese Arbeiten Mozarts immer mit dem Ziel, das er vor Augen hatte, kontextualisieren. Wonach Mozart suchte war etwas, das die Oper kaum verstehen konnte. Die Frage ist also immer, was wollte Mozart damit erreichen, woran scheiterte er, weil die Ambitionen so hochgesteckt waren, und kölnnen wir irgendetwas dazu beitragen, das Stück etwas näher an diese Welt, die er vor Augen hatte, heranzuführen.