„Nicht am Mainstream orientieren!“

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann gilt als streitbarer Kritiker unseres Bildungssystems. In seinem aktuellen Buch „Bildung als Provokation“ greift er einmal mehr die so genannten Bildungsexperten an und redet Klartext. Ein Gespräch über kompetenzorientierte Lehrpläne, moralische Sensibilität und eine Gelassenheit, die uns allen guttäte.

 

Wie bildungsfeindlich ist unser Bildungssystem, dass Bildung als „provokant“ aufgefasst werden?

Forscher sprechen von bis zu 25% sekundären Analphabeten unter den 15jährigen. Das heißt, unsere Schulsysteme schaffen es nicht, in neun Jahren Schreiben und Lesen beizubringen. Wenn das nicht bildungsfeindlich ist, was dann? Auf der anderen Seite erleben wir in den letzten Jahren eine Neuordnung der Bildungssysteme, die unter dem Stichwort „Kompetenzorientierung“ vollzogen wurde. Es wurden alle Lehrpläne kompetenzorientiert umgeschrieben – und das halte ich für extrem bildungsfeindlich, weil es nur noch um das Schulen von formalen Fähigkeiten geht.

 

Neulich wurde ich mit dem Faktum konfrontiert, dass unter 20jährige einen äußerst pragmatischen Zugang zur Musik pflegen. Es gibt kaum noch absichtsloses Hören, das sich selbst genügt. Deckt sich dieser neue Pragmatismus mit Ihren Ergebnissen, was die Bildung anbelangt?

Das könnte man durchaus so formulieren. Musik war immer in hohem Maße an unmittelbaren Bedürfnissen und sozialen Praktiken orientiert. Aber in der europäischen Kultur hat sich eine bestimmte Form der Musik und auch des Komponierens und Hörens herausgebildet, die sich von religiösen Kontexten und weltlichen Veranstaltungen emanzipiert hat. Das Wesen und der Wert der Musik liegt nur in ihr selbst. Zu einer Idee von Bildung gehört es nun, sich genau mit diesen großen Errungenschaften europäischer Kultur auseinanderzusetzen. Und das verlieren wir allmählich. Heute wird alles, was nicht zur Lösung oder Erhellung eines unmittelbaren Lebensproblems dienlich erscheint, aus der Bildung eliminiert. Das halte ich für abstrus, denn alle Fortschritte unserer Kultur, unserer Zivilisation, auch unserer Technik beruhen darauf, dass Menschen nicht immer nur bedarfsorientiert gedacht und gehandelt haben, sondern Phantasie hatten und eigenwillig an Dingen festhielten, von denen viele sagten, sie hätten keinen Sinn. Ohne diese Formen von Eigenwilligkeit und Eigenständigkeit hätten wir eine Gesellschaft, der all das abgeht, was wir für eine Errungenschaft und wichtig halten.

 

In Ihrem Buch kritisieren Sie eine Vermittlung von Wissen, die sich nicht mehr an der Sache, sondern an der Entwicklung des einzelnen im Rahmen seiner Möglichkeiten orientiert. Wenn ich mich nicht am einzelnen orientieren soll, aber auch nicht am Bedarf, woran soll ich mich dann orientieren?

Wir haben das Problem, dass wir von der Bildung immer alles erwarten. Sie soll auf der einen Seite dem einzelnen die Möglichkeit bieten, sich zu entfalten. Leistungen werden dann nicht an bestimmten Standards gemessen werden, sondern nur so weit der einzelne sich angestrengt hat. Damit verlieren Leistungsnachweise ihre Bedeutung, weil eine Note nur noch Auskunft darüber gibt, wie sehr ein Individuum imstande war sich anzustrengen. Andererseits wird Bildung knallhart als eine Möglichkeit gesehen, den einzelnen mit Qualifikationen auszustatten, die ihm einen Job verschaffen, eine Karriere und ein gutes Einkommen sichern sollen.

 

Wo liegt Ihre persönliche Präferenz?

Bildung hatte immer beide Aspekte in sich vereint. Aber man muss den Mut haben, bestimmte Inhalte und Mindeststandards zu definieren, von denen man glaubt, dass sie ein Mensch, der einen Bildungsanspruch hat, wissen sollte. Bildung soll sich nicht nur an außen gesteuerten Zwecken, d.h. dem, was Universitäten und Arbeitsmärkte wollen orientieren. Bildung ist immer ein wesentliches Element in der Bildung eines Charakters, einer Haltung und der Bildung des Menschen als politisches Subjekt, als Mitglied einer Gesellschaft gewesen. Und Bildung hat natürlich auch mit der Bildung von moralischer Sensibilität zu tun.

 

Das akademische Gymnasium feiert heuer 400-jähriges Jubiläum. Macht es überhaupt noch Sinn, seinen Kindern humanistische Werte zu vermitteln oder ist man mit solchen Idealen in einer Welt der Trumps und Erdogans auf verlorenem Posten?

Bis zu einem gewissen Grad waren bestimmte Ziele humanistischer Erziehung immer Minderheitenprogramme und in gewisser Art und Weise immer unzeitgemäß. Darüber muss man sich im Klaren sein. Zum Wesen einer anspruchsvollen Bildung gehört es meiner Meinung nach aber, sich nicht am Mainstream zu orientieren und nicht dem kulturindustriell erzeugten Massengeschmack zu folgen.

 

Wenn man sich den letzten Wahlkampf ansieht, war Asyl das alles bestimmende Thema. Über Bildung wurde wenig bis gar nicht gesprochen. Warum?

Das hat gute Gründe. Auf der einen Seite ist Bildung etwas, was nicht mehr definiert wird. Andererseits werden sie keinen Politiker treffen, der sich nicht zur Bildung bekennt. Ganz im Gegenteil: Jeder meint, da gehe es um die Zukunft unserer Kinder, um die Zukunft der Gesellschaft und Investitionen in den Bildungsbereich seien die wichtigsten überhaupt. Aber, weil eben Bildung eine Leerformel ist, die für alles und nichts eingesetzt werden kann, wird sie, wenn es konkret wird, einfach vernachlässigt. Sie spielt in Wahlkämpfen, Koalitionsverhandlungen und der Vergabe von Ministerien eine Nullrolle. Das, was interessant wäre, wären inhaltliche Fragen. Darüber zu diskutieren, was tatsächlich gelehrt werden soll. Was soll vermittelt werden? Was sind die Grundkenntnisse, die junge Menschen benötigen, um sich zurechtzufinden. Da aber zucken wir zurück.

 

Gehen wir zur Lohnarbeit und ihrer allmählichen Ablösung: Mittelfristig werden nicht nur Busfahrer und Kassierer, sondern auch Journalisten wie ich um ihre Jobs bangen müssen, schreiben Sie. Wie bereitet man die Kinder darauf vor?

Wenn viele spezialisierte Berufe wegfallen, weil sie automatisierbar sind, kann die Botschaft nur sein: Spezialisiert euch so spät wie möglich. Wie sinnvoll kann es sein, einen fünfzehn- oder sechzehnjährigen auf eine bestimmte Art von Digitaltechnologie auszubilden, wenn sie in fünf Jahren überholt sein wird. Je mehr an allgemeinem Orientierungs- und Grundlagenwissen vorhanden ist, das nicht so schnell veraltet, desto besser. Die Grundgesetze der Mathematik werden auch in hundert Jahren noch gelten. Die Grundgesetze der Digitalisierung, egal wie sie technisch realisiert wird, ebenso. Niemand, der heute die Gerechtigkeitskonzeptionen von Aristoteles studiert, wird damit in zehn Jahren veraltet sein. Und Eifersuchtskonflikte gibt es auch im Zeitalter von Tinder. Den Werther zu lesen kann also auch nie schaden.

 

Demgegenüber schreiben Sie: „Eine Schule, die deren Möglichkeit bestreitet und rigide blockiert, indem sie jedes Stück Literatur, das in ihr noch vorkomme, auf seine Kompetenzstrategische Verwertbarkeit befragt, ist barbarisch.“ Ist das der Status Quo?

Das ist das, wo die Bildungsplaner hinwollen. Dass es noch nicht realisiert ist, liegt einzig und allein daran, dass wir noch genug Lehrer haben, die imstande sind, ihre Schüler für Literatur zu begeistern. Aber sie müssten es aufgrund des Lehrplanes gar nicht mehr tun. Es genügt, wenn sie die Kronenzeitung lesen.

 

Christian Ortner hat ein Buch mit dem Titel „Prolokratie“ geschrieben. Es gäbe zu viele Jennifers und Kevins auf dieser Welt, daher wäre die Demokratie als solche nicht mehr zielführend, eine Expertenregierung weit sinnvoller. Man möchte ihm entgegenschreien, dass wir doch versuchen müssten, die Jennifers und Kevins in die Lage versetzen eine wirklich reflektierte Entscheidung zu treffen. Jetzt sagen Sie, auch Bildung sei kein Allheilmittel. Wie kommt man aus dem Dilemma?

Indem man sich auf die Grundprinzipien der Demokratie besinnt, die besagen, dass ein Bürger deshalb Bürger ist und mitbestimmen soll, weil er Teilhaber der Gesellschaft ist, und nicht weil er einen bestimmten Intelligenzquotienten aufweist oder ein bestimmtes Bildungssystem durchlaufen hat. Er darf partizipieren, weil er in dieser Gesellschaft lebt und sich zu dieser Gesellschaft bekennt. Dass das Wahlverhalten mitunter eines ist, dass man selbst missbilligt, gehört zum Wesen einer Demokratie.

 

„Bildung hat auch mit dem Einüben einer Gelassenheit zu tun“, sagen Sie. Müssen wir alle gelassener werden?

Wenn ich an die hyperventilierenden Extasen unserer Medienlandschaft denke, würde ein bisschen mehr Gelassenheit uns allen nicht schaden. Gerade weil modern soziale Medien die Tendenz haben, sofort hysterisch zu werden, wäre die Einübung von Gelassenheit umso wichtiger.

 

Die heute landläufige Meinung geht dahin, dass es nicht mehr zeitgemäß sei, Texte wie die Aeneis zu lesen. Was würden Sie einem Experten, der diese Meinung vertritt, entgegenhalten?

Das Problem, das uns die letzten Jahre beschäftigt hat und für die Wahlergebnisse in Deutschland und auch bei uns verantwortlich ist, war die Migration, das Thema der Flüchtlinge, die aus Nordafrika über Italien nach Europa gekommen sind. Das ist genau die  Route, die auch Aeneas genommen hat. Die Aeneis ist ein Epos, das Europa als den Kontinent der Immigranten beschreibt. Schon die alten Römer wussten also, dass es das Märchen einer autochthonen Gesellschaft nicht gibt, sondern dass sie woanders herkamen. Und man muss die Aeneis ja auch nicht als Ganzes und im Original lesen, es genügen Auszüge, und es gibt gute Übersetzungen.

Herr Prof. Liessmann, vielen Dank für das Gespräch.