Der Krieg und seine Bilder

Mehr als drei Jahrzehnte berichtete Friedrich Orter für den ORF aus Krisenregionen. Mit seiner unnachahmlich ruhigen und präzisen Art hat er dabei stets versucht, das Unfassbare in Worte zu fassen. „Ich weiß nicht, warum ich noch lebe“ heiß sein aktuelles Buch nun, in dem er tief in eine von Kriegen und persönliche Verlusten geschundene Seele blicken lässt.

Ihrem neuen Buch ist ein Zitat von Daniel Kahn aus dem Lied „Sunday after the War“ vorangestellt. „After the war, after the War, oh, nothing will be as before“ heißt es da. Inwiefern haben Sie die vierzehn Kriege, in denen Sie waren, verändert?
Der Krieg verschiebt die Werteskala. Das, was wir in unserer von Kriegen verschonten Gesellschaft mitunter als das Wichtigste definieren – Erfolg, Besitz und Sicherheit – und als gegeben hinnehmen, gibt es in vielen Gegenden einfach nicht. Wenn man sieht, dass das, was vermeintliche Sicherheit ist, von einem Tag auf den anderen weg sein kann, wird man demütiger und bescheidener. In Syrien sind Leute auf der Flucht, die nicht aus den ärmsten Verhältnissen kommen. Wenn man das gesehen hat, ist man nicht mehr der, der man früher einmal war. Der Krieg verändert einen. Das gilt für die Opfer, aber auch für diejenigen, die die Opfer beobachten.

Wird man nicht zugleich auch ein wenig intoleranter gegenüber den so genannten „First World-Problems“?
Es erscheint einem vieles nichtiger, ja. Aber auch in unserer Gesellschaft geht es inzwischen ans so genannte „Eingemachte“. Existenzielle Fragen werden dominant, etwa wie man als Mindestrentner oder alleinerziehende Mutter mit Mindestgehalt den morgigen Tag überlebt. Das sind natürlich auch ernste Probleme, aber zumindest ist noch ein gewisses soziales Netz vorhanden. In Syrien ist das nicht so, dort findet ein Zivilisationsbruch statt. Da brechen Dämme. ISIS ist eine Herausforderung an die gesamte Zivilisation, das dringt jetzt langsam auch in das Bewusstsein von uns Mitteleuropäern, die wir oft denken, dass das alles ohnehin weit weg sei. Aber: Das, was ich in Syrien und im Irak abspielt, ist nicht weit weg. Der Terror kommt auch zu uns, und er wird uns noch lange beschäftigen.

Wie viel Not und Elend kann man uns Wohlstandseuropäern zumuten? Sie selbst wurden mit dem Vorwurf: „Wir haben genug von deinen Leichen und die Zuseher auch“ konfrontiert. Hat Sie das nicht wütend gemacht?
Damals hab ich mich schon geärgert, als eine gut geschminkte Moderatorin im sicheren Kammerchen am Küniglberg schnippisch meint, sie könne die Leichen nicht mehr sehen und die Zuschauer auch nicht. Natürlich dachte ich damals auch, warum ich mir das überhaupt antue. Die Rechtfertigung und Genugtuung war aber, dass ich bei dem einen oder anderen vielleicht doch etwas bewirkt habe. Manch einen zum Nachdenken gebracht habe. Es haben nicht alle weggedreht. Das sehe ich auch am Feedback zum letzten Buch.

Sie haben viel gesehen. Ich zitiere: „Nach Urin und Kot stinkende Spitäler, schwarz verbrannte Köpfe, Körper toter Krieger, aus deren Augen Maden krochen, aufgedunsene Leichen, hineingezwängt in Billigsärge…“ Wird man diese Bilder jemals wieder los?
Los wird man diese Bilder nie, aber man verarbeitet sie, indem man weiß, dass das nur ein Teil unserer so genannten Zivilgesellschaft ist, der in Barbarei ausartet. Ich habe Zeit meines Lebens in der Literatur und in der Kunst Zuflucht gesucht und auch gefunden. Das hat mir den Halt gegeben, weil ich in meinem Glauben bestätigt wurde, dass es neben dem Grausamen eben noch eine andere Welt gibt. Aber „los werden“ kann man es nicht. Aber das, was ich gesehen habe, haben auch andere gesehen: Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen und Hilfsorganisationen wurden mit dem gleichen Elend und den gleichen Grausamkeiten konfrontiert.

„Im Balkankrieg wurde ich nicht einmal gefragt: „Was? Ihr braucht Bilder? Kein Problem, dann erschießen wir halt ein paar Leute.“

Der Journalist und Aktivist Rupert Neudeck hat einmal auf die Frage, wie er das alles nur alles aushalten könne, geantwortet: Das sei vergleichsweise einfach. Er besitze ja im Gegensatz zu den Leuten in den Krisenregionen das Privileg, jederzeit wieder in seine wohlbehütete Welt zurückkehren zu können. Klingt wahr, ist aber für jemanden, der an solch einem Ort von Not und Elend überwältigt wird, auch reichlich abstrakt, oder?
Nein, ich nenne das auch immer Privileg, denn die Möglichkeit der Rückkehr ist ein solches. Vorausgesetzt freilich, man hat überlebt. Nicht wenigen Kollegen war dieses Privileg nicht vergönnt. Und wir arbeiten vor Ort immer mit lokalen Mitarbeitern zusammen, weil uns Westlern ja gar nicht möglich ist, in gewisse Regionen vorzudringen. Wenn mir mein Mitarbeiter in Bagdad dann erzählt, dass er morgens unter seinem Haustür eine Nachricht fand, auf der stand: „Wir wissen, dass du mit denen zusammen arbeitest. Heute kriegst du einen Brief, das nächste Mal eine Kugel“ , stellt sich auch die Frage, inwieweit man überhaupt noch mit so jemandem weiter zusammenarbeiten kann, ohne sein Leben zu gefährden. Das Privileg ist also ein zweischneidiges Schwert.

Im Buch sagen Sie: „Die einzige Rechtfertigung für dieser Arbeit ist die Wahrhaftigkeit der Berichterstattung als Ausdruck des Respekts.“ Gab es Momente, in denen Ihnen diese Wahrhaftigkeit abhanden kam?
Wenn sie als Reporter Flüchtlinge, Opfer und Vergewaltigte filmen, müssen sie sich klar sein, dass sie auch manipuliert werden. Die Aussagen lassen sich ja ad hoc nicht überprüfen. Ich habe meinen Kameramann nicht selten gefragt: „Glaubst du das, was uns da erzählt wird?“ Genau da liegen die Grenzen der Wahrhaftigkeit der Berichterstattung.
Man muss auch vielen lokalen Mitarbeitern vertrauen, die man braucht, weil man als Westler gar nicht überall hinkommt. Dem, was dir dieser Mitarbeiter bringt, musst du glauben. Das ist eine Schwäche, mit der man leben muss. Im Irak sind übrigens Hunderte solcher Berichterstatter ums Leben gekommen, von denen kein Medium bei uns berichtet. Wer erinnert sich an einen Kameramann Valid Khaled, der von den Amerikanern erschossen wurde? Einer unter vielen…

Ihr deutscher Kollege Volker Schwenck hat IS-Kämpfer, die ihm gefesselt mit verbundenen Augen vorgeführt wurden, interviewt, was medial einen Sturm der Entrüstung nach sich zog. Wie groß ist die Gefahr, dass man solche Grenzen – den journalistischen Scoop vor Augen – nicht mehr wahrnimmt?
Etwas derartiges habe ich nie gemacht. Ich habe zwar auch in Gefangenenlagern gedreht, aber nicht aus der Perspektive, aus der die Täter das wollten. Ich wollte damit zeigen, dass Menschen zu Unrecht festgehalten wurden.

Konkret?
Im Jugoslawienkrieg einmal, als Kroaten serbische Zivilisten interniert hatten. Da habe ich die gedemütigten Serben gefilmt – auch um zu zeigen, dass dieses Schwarz-Weiß-Schema einfach nicht stimmt. Das waren keine Kriegsverbrecher, sondern Zivilisten. Im Balkankrieg wurde ich nicht einmal gefragt: „Was? Ihr braucht Bilder? Kein Problem, dann erschießen wir halt ein paar Leute.

Seit Herbst 2013 haben Sie sich offiziell „zur Ruhe“ gesetzt. Kommt man mit solch einem Beruf überhaupt „zur Ruhe“? Sie lassen an einigen Stellen des Buches anklingen, dass es vielfach Beziehungen und Freundschaften gibt, die es aufrecht zu erhalten gilt…
Natürlich geht das nicht. Nur: Ich muss nichts mehr müssen, das ist der Unterschied. Oder anders gesagt: Ich beziehe zwar eine Pension, aber ich bin nicht in Pension. Zu meinem Producer in Bagdad pflege ich immer noch intensiven Kontakt und ich möchte auch bald wieder hinfahren. Das geht aber nur, wenn er das entsprechend vorbereitet. Dort wartet niemand auf mich.

Wie bekommen wir das Problem mit dem IS in den Griff?
Wenn dem IS-Staat sein Geld ausgeht und er seine Soldaten nicht mehr bezahlen kann.

Das wird so bald nicht der Fall sein, oder?
Wenn man ihre Rückwege in die Türkei und den Iran bombardiert, schon. Dann aber, und wenn sie ihre Territorien nicht mehr halten könne, werden sie den Terror exportieren.

Und ihr primäres Ziel, ein Kalifat zu erschaffen?
Das werden Sie aufgeben und das Al Quaida-Konzept übernehmen. Die Strategie ändert sich, die Taktik nicht. Wenn sie etwas in Syrien verlieren, werden sie dafür im Jemen und in Libyen Fronten eröffnen und den Terror nach Europa tragen. Das ist die aktuelle Gefahr. Krieg gegen Terror kann man nicht führen. Das ist wie mit der Malaria: Wenn sie Malaria besiegen wollen, müssen sie nicht die Mücke ausrotten, das reicht nicht. Sie müsse die Sümpfe trocken legen.

Hat Sie das, was Sie erlebt haben, jemals desillusioniert?
Nein, es hat mich realistisch werden lassen. Wenn man als junger Mensch mit Sympathien für die Bürgerrechtsbewegung in den USA aufgewachsen ist, gegen den Vietnamkrieg und gegen den Schah von Persien demonstriert hat – was nachher kam, wissen wir – an unzähligen Friedenskonferenzen teilgenommen hat, wo die Gescheitesten und Engagiertesten sprachen und hunderttausende Tonnen Papier an Vorstellungen produziert wurden, hat man eines gelernt: Die Menschheit weiß, wie man Krieg verhindern kann. Man weiß, wie es geht.

Und warum tut er es dann nicht?
Letztlich glaube ich, dass der Mensch so programmiert ist, dass ihn seine Gene fernsteuern. Der Homo Sapiens hätte nie überlebt, hätte er nicht dreihundert Arten ausgerottet.

Vielen Dank für das Gespräch.