Wie der Teufel hinter der armen Seele

Michael Thalheimer, einer der erfolgreichsten deutschen Theaterregisseure, gilt als Mann für die klassischen Stoffe, die er gerne auf ihren Kern reduziert und so wohltuend entstaubt. Dafür wurde er vom Feuilleton auch schon „Skeletteur“ oder „Ver-Dichter“ genannt. Bei den Salzburger Festspielen inszeniert er heuer Schillers Jungfrau von Orleans. Mit Salon sprach er in Berlin über das klaustrophobe Österreich, kalkulierte Skandale und unmenschliches Mitleid.

Sie haben in Bern Schauspiel studiert. Wie war das so als Hesse in der Schweiz?
Als junger Mensch das erste Mal im Ausland zu sein, war erst mal toll. Aber nach vier Jahren gab es dann auch nichts Schöneres als wieder zu gehen. Das Überschaubare wird einem, wenn man jung ist, schnell langweilig.

Überschaubar und langweilig findet so mancher auch Salzburg. Wie haben Sie die Stadt erlebt, als Sie 2003 den Woyzeck am Salzburger Landestheater inszenierten?
Ich hatte eine angenehme Zeit dort. Die Landschaft rund um Salzburg ist erstaunlich schön. Es gibt gutes Essen, tollen Wein. Natürlich: Die Festspiele selbst haben schon etwas Klaustrophobisches an sich. Und ich bin eher jemand, der diesem ganzen Trubel gern entflieht, Ruhe und Konzentration sucht. Das aber ist in einer Stadt, die so klein ist, dass man sich zwangsläufig über den Weg läuft, schwierig.

Klaustrophobie führt mich zu Ihrer aktuellen Inszenierung von Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ Was fasziniert Sie so an diesem Stoff?
Zuerst einmal finde ich Horvaths Sprache großartig. Und dann erzählt das Stück eine unglaubliche Geschichte mit unglaublichen Figuren. Die Menschen sind in der Art, wie sie sich begegnen, unfassbar erschreckend. Man fragt sich die ganze Zeit, ob sie denn überhaupt kein Bewusstsein dafür haben, wie sie mit ihrem Gegenüber umgehen. Und die Brutalität fällt letztlich auf jeden einzelnen zurück. Oder umgekehrt: Wie man behandelt wird, so behandelt man auch die anderen, was zwangsläufig zur Katastrophe führt. Man sagt ja oft über das Stück, dass der Krieg und die Machtübernahme der Nazis darin schon spürbar seien. Und tatsächlich hat man bei dieser Dummheit, mit der die Figuren auf die Dinge vor ihnen schauen, oft das Gefühl, dass sie den Weg für ganz finstere Zeiten bereitet. Man möchte sich mit den Figuren nicht identifizieren, aber Horvath schafft es, dass man sich in ihnen erschreckender Weise wieder entdeckt. Das macht den Reiz aus. Auch sein Vorwort ist sehr aussagekräftig: „Nichts gibt uns so sehr das Gefühl von Unendlichkeit wie die Dummheit“, sagt er.

Macht diese gesellschaftliche Verrohung, die Horvath geradezu minutiös schildert, das Stück besonders aktuell?
Ja, genau deshalb ist es zeitlos. Die Verrohung gab es immer schon, und es
wird sie auch immer geben.

Wie begegnen Sie diesem Gefühl?
Ich nehme es wahr und bin teils auch schockiert. Aber ich möchte nicht den Zeigefinger erheben, was ja auch Horvath nicht wollte, denn man spürt gleichzeitig ja auch, dass man Teil der Gesellschaft und damit auch der Verrohung ist. Man spürt sie sozusagen an sich selbst.

Inwiefern?
Jeder ist Kind seiner Zeit. Das heißt, ich gehe schlichtweg davon aus, dass ich selbst nicht so anders bin als die anderen. Nur beobachte ich mich nicht so genau wie die anderen.

Wie ernst sind die Figuren Horvaths zu nehmen?
(lacht) Todernst! Genau darum geht es. Sich nicht zurückzulehnen und zu sagen: Schaut mal her, so hat Horvath das mit der Dummheit gemeint! Denn so schafft man Distanz. Mir geht es aber um Identifikation, und die schafft man nur, indem man die Figuren ernst nimmt. Und die kann man wiederum nur ernst nehmen, wenn man vor sich selbst zugibt, dass man im Leben nicht in jedem Moment alles richtig macht.

„Es gibt nichts Langweiligeres als kalkulierbares Theater“

Sie gelten als jemand, der direkten Zugriff auf das Stück sucht. Diese Verdichtungen und Kürzungen haben ihnen auch schon den Ruf eingebracht, ein Radikaler zu sein. Sehen Sie sich so – als Radikalen?
Das sind Begriffe mittels derer die Kritik versucht, meine Arbeit zu beschrieben. Manchmal gelingt das und man findet sich wieder, dann wieder nicht. Aber ich selber beschreibe mich nicht in diesen Kategorien. Ich arbeite. Andere müssen das beschreiben, was ich tue.

Aber kann die Reduktion auf das Wesentliche überhaupt radikal sein?
Wie Tschechov das in seinen Briefen an Stanislawski schrieb, möchte ich erst einmal alles Überflüssige vermeiden, alles Ablenkende. Darin besteht vielleicht eine gewisse Radikalität. Es gibt bekanntlich eine Text- und eine Werktreue. Nur letztere ist mir wichtig. Man kann Respekt vor einem Werk haben, obwohl man es nicht ungestrichen auf die Bühne bringt.
Wenn ich aber ein Thema verfolge oder den Kern eines Stückes spüre, werde ich radikal. Oder in der Arbeit mit einem Schauspieler: Wenn ich da etwas sehe, etwas bei einer Figur vermute, dann bin ich da hinterher wie der Teufel hinter der armen Seele, um das herauszuschälen. Das läuft über äußerste Konzentration und Radikalität – aber nur gemeinsam mit dem Schauspieler. Ich weiß, dass Schauspieler, wenn sie von Journalisten gefragt werden, ob es denn hart sei, mit mir zu arbeiten, immer unangenehm berührt sind.

Wieso? Weil Sie so ein Schleifer sind?
Man erreicht kein gutes Theater gegen den Willen der Schauspieler. Es ist immer eine Gemeinsamkeit. Wenn man die nicht sucht und findet, wird man auch kein gutes Ergebnis erzielen. Ich kann mich an keinen Moment in meiner Karriere erinnern, in dem ein Schauspieler auf der Bühne etwas machen musste, was er nicht zutiefst auch selbst wollte.

Gehen wir zum Kern, den es bei der Jungfrau von Orleans freizulegen gilt. Haben Die schon eine Ahnung, wie der aussehen wird?
Ich habe Ahnungen und Instinkte, aber es wäre zu früh, darauf gut antworten zu können. Ich ahne etwas, muss es aber noch intensiver untersuchen.

Wird Religion eine Rolle spielen?
Sehr wahrscheinlich, obwohl es kein Stück über Religion ist. Aber Religion ist unabdingbares Thema. Die heilige Jungfrau: Schon der Titel weist daraufhin, dass man da nicht umhin kommt. Aber es geht mehr um Glauben als um Religion.

Sie haben 2012 am Burgtheater Brechts heilige Johanna der Schlachthöfe inszeniert. Wird diese Inszenierung die aktuelle Arbeit beeinflussen?
Auf mich wird es jedenfalls einen Einfluss haben. Als ich mich dazu entschied, mich an Schillers Stück zu trauen, war ich froh, Brecht schon gemacht zu haben, weil sich Brecht natürlich an Schiller orientiert und Themen berührt, die auch hier eine Rolle spielen werden.

Schuld und Unschuld etwa?
Ja, und Wahnsinn. Wie wahnsinnig ist Johanna? Ist es überhaupt eine Form von Wahnsinn? Welche Hybris steckt dahinter, dass man an den göttlichen Auftrag bzw. daran glaubt, dass das eine Wahrheit besitzt? Sie zweifelt ja im Laufe des Stückes: Sind es die teuflischen Mächte, war es tatsächlich Gott oder war es nur Einbildung? In einem ihrer schönsten Monologe fragt Johanna, ob vielleicht alles nur ein Schattenspiel war, ob sie das alles nur geträumt hat: Die Schlacht, die Erscheinung Gottes, den Auftrag, die Morde. Das Töten und das Blut, das an ihren Händen klebt… Andererseits ist Johanna für die Engländer und Franzosen eine riesige Projektionsfläche für die eigenen Ängste, Wünsche und Sehnsüchte. Dadurch wird sie getrieben und gemacht. Schiller wirft da viele Fragen auf, die auch heute noch interessant sind: Wohin projizieren wir unsere Sehnsüchte? Woran möchten wir glauben, obwohl wir vielleicht wissen, das es das eigentlich nicht geben kann. Oder lassen wir uns durch den Erfolg verblenden und folgen gerne einem Bild – wohl wissend, dass es auch das Böse sein könnte, das uns leitet.
Johanna sagt schier unglaubliche Sätze: Ist Mitleid Sünde? fragt sie. Wie kann ein Mensch auf diesen Gedanken kommen? Was verbirgt sich dahinter? Das sind die Fragen, die mich umtreiben. Die Liebe will sie nicht zulassen, am Menschlichen geht sie zugrunde.

Muss denn zwischen göttlichem Streben und der menschlichen Liebe ein Widerspruch sein?
Nein. Aber diese Reibung ist es, die es schwer macht, dahinter zu kommen, was sie sich auferlegt. Bislang ging ich davon aus, dass Mitleid etwas Menschliches ist und Mitleid zu empfinden etwas Gutes in sich hat. Sie aber negiert das. Oft denkt man, Liebe und Glaube sollten gar kein Widerspruch sein. Sie aber trennt das. Und erst als sie menschlich wird, stirbt sie. Da wirft Schiller im philosophischen Sine wahnsinnig viele Fragen auf. Das gemeinsam mit tollen Schauspielern untersuchen zu dürfen – darauf freue ich mich. Das tun zu dürfen, ist unfassbarer Luxus.

Wiener Burgtheater, Salzburger Festspiele. Hofmannsthal, Horvath und zuletzt sogar Johann Strauss´ Fledermaus. Würden Sie sagen, Ihr Bezug zu Österreich geht über das in Theaterkreisen Übliche hinaus?
Interessant. Die Frage hab ich mir noch nie gestellt. (überlegt) Wenn man so lange Theater macht, wird man nicht umhin kommen, sich mit Österreich, seinen Autoren und deren Stücken zu beschäftigen. Aber so viel? Dennoch würde ich sagen, es ist ein normales Verhältnis.

Dass jemand mit ihren Vorlieben die Fledermaus inszeniert, ist dann aber weniger naheliegend, oder?
Das war alles andere als naheliegend.

Und wie kam es dazu?
Man könnte sagen, es war eine Schnapsidee. Ich hatte damals schon einige Opern inszeniert, bin selbst Musiker. Da hatte ich die Idee, diese heilige Kuh doch einmal zu schlachten, um zu schauen, was dabei rauskommt.

Was kam dabei raus?
Um es nett auszudrücken: Das Resultat war keine Sternstunde für mich.
Mir wurde erst im Laufe der Geschichte bewusst, wie wenig Substanz in der Geschichte liegt.

Es ließ sich also kein Kern freilegen?
Nein, weil der Text keinen Kern hat. Genau das war der Irrtum. Das Libretto ist geradezu hanebüchen. Ein Kritiker schrieb damals: Thalheimer sucht gerne den Kern eines Stückes. Leider stellte sich heraus, dass das Stück eine Pampelmuse ist.
Den Blick von außen auf eine so genannte heilige Kuh, derer es in Österreich ja einige gibt – man denke nur an die so genannten Volksdichter Nestroy und Raimund – finde ich dennoch spannend.
Ja. Vielleicht hätten wir das Stück in Wien zeigen sollen.

Hätte es den, denken Sie, dort für einen Skandal gereicht?
Vielleicht. Aber ich kalkuliere so etwas nicht. Ich hasse das Kalkül. Es gibt nichts langweiligeres als kalkulierbares Theater, dem es darauf ankommt zu provozieren.

Dennoch ist Ihnen im Laufe Ihrer Karriere der eine oder andere Skandal gelungen.
Wenn es passiert, dann passiert es. Aber es steht bei mir nicht im Vordergrund.

Ärgern Sie sich, wenn es dann doch passiert, weil der Skandal doch vom Inhalt des Stückes ablenkt?
Grundsätzlich dürfen die Kritik, und vor allem der Zuschauer, ob ich es nun mag oder nicht, auf Theater reagieren, wie sie wollen. Es gibt da keine Maßregelung. In Salzburg allerdings war ich ob der Heftigkeit der Publikumsreaktionen schon überrascht und dann auch verärgert. Da wurde laut „Geh doch zurück nach Deutschland!“ gerufen, „Wir wollen unser Geld zurück!“, und „Aufhören!“ Jemand hat sogar „Euch sollte man alle aufhängen!“ geschrien. Dabei hatte ich eigentlich gedacht, dass diese Zeiten überwunden seien. Das war so faschistoid und dumm, dass ich es als erschreckend und bedrückend empfand. Und da wären wir wieder bei Horvath angelangt. Man sieht, wie zeitlos seine Geschichten aus dem Wiener Wald tatsächlich sind.

Komisch. Die Radikalität in der Aufführung eines Woyzecks hat doch geradezu Tradition.
Absolut. Damals aber hatte ich den Eindruck, die Premierengäste hätten eine eigenartige Erwartung gehabt, was das Theater ihnen geben soll. Ich habe erlebt, wie eine Dame nebst Gatten an der Theaterkassa Karten „der teuersten Kategorie“ forderte. Und als sie die bekam, fragte sie noch einmal nach, ob das auch wirklich die teuersten wären, es nicht doch noch etwas Teureres gäbe. Da fragt man sich natürlich schon, in welcher Welt man ist. Und es wird klar, dass Erwartungen an Büchner, Woyzeck mich und die Schauspieler herangetragen werden, die ich nicht erfüllen möchte. Auftrag des Theaters kann es ja nicht sein, jemanden in Ruhe zu lassen und Nettigkeiten zu zeigen. Denn genau darum geht es: Gesehen und in Ruhe gelassen werden. Dafür bräuchte es keine Subventionen.

Nun war Schiller jemand, der den Freiheitsbegriff in der Kunst maßgeblich prägte, andererseits war er kein unbedingter Freund der Demokratie. Sie sei die „Herrschaft der Feigen und der Dummen“, da es mehr Feige als Mutige und mehr Dumme als Kluge gebe, sagte er. Ist die Mehrheit denn dumm im Horvathschen Sinn?
Dass die Mehrheit dumm ist, würde ich nicht sagen. Aber die Mehrheit muss nicht die Wahrheit gepachtet haben. Durch die Mehrheit trifft man sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und damit will ich mich nicht zufrieden geben. Ich bin kein ausgesprochener Demokrat. Ich bin froh, dass viele andere gesellschaftliche Formen überwunden wurden. Dich es wäre vermessen, wenn wir uns zufrieden zurücklehnen würden und glauben würden, wir hätten das beste gefunden Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte auf keinen Fall zu einer dieser bereits gelebten Formen zurück. Aber trotzdem gibt es eine Hoffnung, dass es auch och andere Gesellschaftsformen geben wird. Das ist ein Thema, das mich immer beschäftigt – nicht nur bei Schiller, sondern eigentlich bei allen meinen Arbeiten. Was ist die Demokratie? Der Menschheit letzte Weisheit? Ich hoffe nicht.