Sich erlauben, Mensch zu sein

Andreas Scholl hat einfach nie aufgehört mit seiner Knabenstimme zu singen. Heute gilt er als einer der besten Countertenöre der Welt. Im Salzburger Festspielhaus, wo er im Sommer den Julius Caesar singt, verriet er uns, weshalb es kein Widerspruch, sondern geradezu menschlich ist, eine männliche Heldenrolle in Mezzosopran zu singen und wie man durch Verblüffung Vorurteile löschen kann.

Sie haben den Julius Cäsar oft schon konzertant aber auch szenisch gesungen. Was macht den besonderen Reiz der Rolle aus?
Händels Caesar ist die Traumrolle jedes Countertenors. Zum einen, weil sie so unglaublich umfangreich ist: Man hat acht Arien und zwei Duette zu singen, ist also sehr präsent auf der Bühne. Zum anderen, weil die Oper musikalisch einen Hit nach dem anderen aufweist.

Sie sagten einmal, ihr Ziel sei es, jeder Figur, die Sie spielen, etwas Neues abzuringen. Was, würden sie sagen, haben Sie dem Caesar abgerungen?
Das entspricht weniger meinen Vorstellungen als vielmehr dem, was mir die Regisseure vorgeben. Vor allem Moshe Leiser hat ganz klare Vorstellungen davon hat, wie dieser Caesar sein soll. Das mag am Anfang etwas mühsam sein, weil man relativ wenige Freiheiten hat, eigene Sachen einzubringen, aber man merkt dann bei den ersten Aufführungen auch, dass, man sich, wenn man solch einen guten Regisseur hat, ungleich tiefer fallen lassen kann.

Warum?
Weil man ganz und gar darauf vertrauen kann, dass das, was man tut, auch tatsächlich funktioniert. Die einzelnen Szenen sind in ihrer Dramaturgie so stimmig, dass sie sich von selbst erklären. Spätestens wenn es statt Arienapplaus Szenenapplaus gibt, ist man bekehrt. Das hat aber weniger mit Feeling als mit Präzision zu tun.

Und Caesar selbst – wie soll er nach dem Willen der Regisseure sein?
An einer Stelle sagt Caesar als der Regierungschef, der er nun einmal ist, dass er für Menschenrechte sei. Aber ab und zu müsse man halt auch ein paar Bomben schmeißen, um sie durchzusetzen.

Blanker Zynismus?
Politisches Tagesgeschehen! Das macht den Charakter um einiges interessanter als in anderen Produktionen, in denen er als heldenhafte und ehrenwerte Rolle angelegt ist. Die einzige Schwäche, die ihm das Libretto zugedacht hat, ist ja, dass er ein Macho ist, der sich an die Dienerin ranmacht.

Liegt nicht schon allein im Umstand, dass solch eine machoide Figur mit der Stimme eines Countertenors gesungen wird, ein Bruch?
In unserer heutigen Gesellschaft erscheint es uns vielleicht brüchig, weil wir bestimmte Ansichten darüber haben, wie sich Frauen und Männer innerhalb der Gesellschaft zu verhalten haben: Frau singt und spricht eher hoch. Mann singt und spricht eher tief. Frau darf in der Öffentlichkeit weinen, Mann eher nicht. Das sind aber doch nur Rollenvorgaben, keine Naturgesetze. Und über die Jahrhunderte haben sich diese Rollen immer weiter entwickelt. Zum mittelalterlichen Ritter-Ideal gehörte auch die hohe Minne. Er musste nicht nur mit dem Schwert Köpfe abhauen können und im Turnier stark sein, sondern auch Gedichte schreiben und ein Instrument spielen können. Heute ist uns das ein wenig abhanden gekommen. Heute ist der Macho nicht der, der Gedichte schreibt, sondern der, der besonders hart zuschlagen kann und Führungsstärke zeigt. Eigentlich steht der Countertenor bzw. stand damals der Kastrat als übermenschlicher oder eben besonders menschlicher Superheld über diesen Vorgaben, weil er beide Elemente in sich vereint. Durch seine hohe Stimme transzendiert er das Klischee des Machos, das wir heute mit Männlichkeit verbinden. Und so kann der Countertenor vielleicht als menschliche Identifikationsfigur dienen, die nicht nur das Klischee des Machos erfüllt, sondern Mensch sein darf, mit all seinen Eigenschaften. Die Fähigkeiten, die wir in uns tragen, sind ja alle menschlich – unabhängig davon, welche Eigenschaften uns von der Gesellschaft zugeordnet werden.

Ist es in unseren Breitengraden schwieriger, das zu begreifen, als in England, wo der Countertenor eine ganz andere, viel tiefere Tradition hat?
Natürlich. Dort, wo die das schon oft gehört haben, ist die Überraschung nicht so groß. Aber die Überraschung an sich kann auch etwas Gutes sein. Ich war mal bei Freunden zu einer Weihnachtsfeier eingeladen, wo ein Tiroler Geschichtenerzähler auftrat. Seinen Erzählabend leitete mit einer so genannten Nonsens-Geschichte ein: Jemand geht in den Wald, klettert einen Baum hoch, aber es ist gar kein Baum, sondern ein Kirchturm. Er springt runter, fällt auf eine Wolke und landet im See, aber es ist kein See etc…. Als Zuhörer versucht man der Geschichte ständig einen Sinn abzuringen, aber irgendwann stellt man fest: Es gibt keinen. Die Idee dahinter, hat uns der Geschichtenerzähler später erklärt, ist die, im Hirn eine Art Löschknopf zu betätigen, wodurch man all das, was wir dort so an Voreingenommenheit und Vorurteilen gespeichert haben, kurzzeitig vergessen kann.

Das heißt, man befreit sich von all dem Ballast?
Exakt. Und den gleichen Effekt, glaube ich, erlebt man auch, wenn man zum ersten Mal einen Countertenor hört. Der Geist will das erst mal einordnen, schafft es aber nicht. Und irgendwann kommt dieser Moment, in dem man die Geschichte, die dahinter steht, ungefiltert und unbeeinträchtigt durch die eigenen Vorurteile empfängt. Und dann kann man sich ganz anders auf diese Geschichte einlassen. Wie bei diesem Geschichtenerzähler ist die Verblüffung eine Vorbereitung auf das Wesentliche.

Ein wenig erinnert mich das an Lars von Triers Film „Dogville“, der „reinen Tisch macht“, indem er auf einer leeren Bühne spielt. Alles, was nach Kulisse oder falschem Schein aussehen könnte, wurde einfach weggelassen.
Genau. Den hab ich mit damals meiner Freundin angesehen und zunächst gedacht: So ein Quatsch. Aber irgendwann war ich total fasziniert. Und am Ende sind die Kreidestriche Mauern und man realisiert gar nicht mehr, dass das Bühnenbild eigentlich zur Gänze fehlt. Vielleicht wirkt es dadurch sogar intensiver, weil das Drumherum nicht mehr ablenkt.

Liegt genau darin die Faszination am Gesang eines Countertenors? Man könnte die Rolle des Caesars ja – wie in der Vergangenheit auch vielfach passiert – ebenso gut durch einen weiblichen Mezzosopran einsingen lassen?
Ich glaube schon, ja. Zur Barockzeit sind die Leute massenhaft in die Theater gelaufen, um Kastraten zu hören, in den heldenhaftesten Rollen der Weltgeschichte. Dominique Fernandez hat in einem seiner Bücher einmal die Erklärung dafür geliefert: Er nannte es die „Sehnsucht nach dem Menschsein“, die wir in uns tragen. Uns fehlt ja oft der Mut, positive Impulse zuzulassen, weil wir das Urteil unserer Mitmenschen fürchten. Meine Tochter etwa hat, als sie drei, vier Jahre alt war, sobald sie Musik hörte, zu Tanzen begonnen. Ganz natürlich. Das hat niemanden verletzt, sondern alle froh gemacht. Wie oft aber steht man als Erwachsener in einer Bar, es läuft das Lieblingslied und man möchte dazu tanzen, unterdrückt es aber aus Angst, man könnte sich blamieren. Ich lege auf der Bühne quasi in Vertretung diese Hemmungen ab, erlaube es mir einfach Mensch zu sein und lebe dieses Menschsein voll aus.

Apropos Unterdrückung: War es in Jungenjahren, als man Ihre Begabung entdeckte, schwer für Sie, diese auch zuzulassen? Aus Angst vielleicht vor stereotypen Meinungen?
Nein, mein Umfeld war Gott sei Dank ein sehr geschütztes. Innerhalb des Knabenchors hab ich nur das weiter gemacht, was ich als Bub schon gemacht habe

Aber es gibt ja auch Mitschüler, die das vielleicht nicht so toll fanden.
Es gab zwei, drei Momente, in denen man im Knabenchor als Siebzehnjähriger ein Solo singt. Dann merkt man natürlich, dass der Sport-Star bei den Mädels besser ankommt. Aber ich spürte immer auch Faszination, nicht nur Verwunderung oder Ablehnung. Und ich fühlte mich auch nie weniger männlich deshalb. Aber vielleicht war es für mich auch deshalb so einfach, weil ich aus einer bodenständigen Familie komme und weil es diesen Bruch nie gab: Ich hab meine Knabenstimme einfach über den Stimmbruch weg getragen. Ich erlebe oft, dass mir junge Sänger beim Vorsingen erklären, sie hätten plötzlich entdeckt, besonders zu sein. Da steckt viel Selbstfindung mit drin. Und das ist dann ein ganz anderes Ego, das sich entwickelt, wenn man vermeint, besonders zu sein. Da neigt man dann leicht zu Übertreibung und Selbstverliebtheit.

Wobei diese Selbstverliebtheit, wenn man sich berühmte Kastraten wie Farinelli oder Senesino vergegenwärtigt, einmal eine große Rolle spielte.
Das müssen unglaubliche Zicken gewesen sein, ja. Und heute lachen wir über die Anekdoten. Aber man muss sich da auch in Nachsicht üben, wenn man sich vergegenwärtigt, welch traurige Gestalten das doch waren. Als Kinder von den Familien entfernt, ins Internat gesteckt und dort ohne Liebe der Eltern und mit unglaublicher Strenge erzogen. Dann Star-Ruhm, viel, viel Geld. Und wenn die Karriere zu Ende war, haben sie meist Neffen adoptiert, wie sie sonst keinerlei Familie hatten. Das waren ganz arme Wesen, durch die Kastration physisch wie psychisch völlig zerstört.

Um Ihre Person gibt es auch viel Rummel. Wäre Ihnen da nicht manchmal weniger lieber?
Man bekommt Aufmerksamkeit und genießt die Anerkennung durch das Publikum. Aber wenn der Konzertrahmen wegfällt, ist auch wieder Schluss.. Neulich bin ich mit Cecilia Bartoli durch Salzburg gelaufen. Den ganzen Abend lang kam nur ein Paar, das Cecilia erkannte.

Können Sie sich noch an Ihre erste Oper erinnern?
Klar. Das war auch Julius Cesar. Konzertant mit René Jacobs.

Wie anders ist es jetzt, wenn sie an Ihre persönliche Entwicklung denken?
In zweierlei Hinsicht sehr anders. Das eine ist die Psyche: Als junger Sänger war ich sehr unbeschwert war und hab´ mir kaum Gedanken gemacht. Heute bereite ich mich viel besser vor. Und das andere ist die Stimme. Man hat einfach viel mehr Erfahrung. Der Sinn für Drama, Tempo und die rhetorischen Aspekte im Rezitativ ist ein ganz anderer. Die Farbenpalette, die man sich über die Jahre hinweg aneignet, wird immer größer.

Was hätten Sie beruflich gemacht, hätte man nicht dieses Ausnahmetalent an Ihnen entdeckt?
Als Teenager war es mein Traum, zur GSG9 zu gehen. Das aber hätte ich nicht geschafft, weil ich so schielte. Einer meiner Kumpel ist Polizist in Wesbaden. Den besuche ich oft an seiner Dienststelle und dann wir gehen einen Happen zu Mittag essen. Da denk ich mir immer wieder: Polizist zu sein, das hätte mir auch Spaß gemacht.

Vielen dank für das Gespräch.