„Nicht alles darf ich gut finden“

Karl Markus Gauß empört sich. Und er tut es zu unser aller Vorteil. In seinen Büchern, Essays und Reportagen, forscht der Salzburger unbeirrbar nach den Wurzeln, die wir vergessen haben, und den Rändern, die wir gerne ausblenden. Ein Gespräch über familiäre Phantomschmerzen, armutsfreie Zonen und die Ratlosigkeit, die einen befällt, wenn einem der blanke Hass entgegenschlägt.

Thomas Glavinic hat einmal über Sie gesagt, es könne schon auch vorkommen, dass Sie, wenn Sie von einer Reise zurückkommen, 500 E-Mails ungelesen löschen, weil Ihnen die Welt den Buckel runterrutschen kann. Fakt oder Fiktion?
Eine gute Vermischung von beidem: Ich bin bemüht, die vielen E-Mails, die ich bekomme, auch zu beantworten, die altmodischen Briefe sowieso. Das ist ein nicht so sehr ein Akt der Höflichkeit, als der zivilisatorischen Gesittung. Andrerseits ächze ich unter dieser selbst auferlegten Pflicht manchmal so sehr, dass mir nur mehr die radikale digitale Notwehr hilft.

In Ihren Büchern haben Sie sich mit den Wurzeln und Rändern Europas beschäftigt. Warum, denken Sie, werden diese beiden Bereiche gesellschaftlich so gerne und erfolgreich ausgeblendet?
Sich mit den Wurzeln, also der widersprüchlichen Herkunft der eigenen Kultur, Nation, Persönlichkeit zu beschäftigen, ist ziemlich anstrengend; und führt auch nicht immer zu einem echten geistigen oder moralischen Ertrag. Ich kann es niemanden verdenken, dass er sich das ersparen will. Ich sehe mich als Autor hier sogar ein bisschen als Stellvertreter: Ich mache mir diese Mühe gerne, sie hat meinem Leben Sinn, meinem Forschen Tiefe, meiner Arbeit Freude beschert – und jetzt möge sich jeder an dem, was ich herausgefunden und geschrieben habe, bedienen. Die Ränder aber, mit denen ist es nun einmal so, dass sich bei ihnen die andere, die verborgene, vertuschte Wahrheit eines Kontinents, einer Gesellschaft, einer Epoche manifestiert, und diese Wahrheit stört. Ich war z.B. im Sommer auf einer langen Reise durch die bulgarischen Provinz, wo die Leute so herzergreifend arm sind, dass man es kaum fassen mag. In ganzen Regionen gibt es kaum einen Arzt mehr, weil an die 8.000 bulgarische Ärzte in den letzten Jahren von Krankenhäusern und Krankenkassen in England, Holland, Deutschland gewissermaßen herausgekauft wurden. Und Europa spricht nicht von diesem Skandal, sondern davon, dass die Armutsemigration aus dem Osten unerträglich geworden sei.

Hat Ihr Interesse für vergessene Schätze aus dem südosteuropäischen Raum auch ein wenig mit Ihrer eigenen Herkunft zu tun? Ihre Familie stammt aus der Vojvodina und wurde Ende des zweiten Weltkrieges von dort vertrieben. Ist das Reisen, Forschen und darüber Schreiben der innere Zwang, sich die Welt zu erklären und so gegen die eigene Entfremdung anzukämpfen?
Da haben Sie recht. Es war sicher auch ein familiär tradierter Phantomschmerz, der mich anfangs über die Grenzen meines Landes hinausschauen ließ. Was ich dann reisend in der Realität, aber auch in Archiven und Büchern entdeckte, das hat mich allerdings nicht traurig gestimmt, sondern begeistert, so vieles fand ich, von dem ich vorher nichts wusste und von dem ich sogleich andere Menschen unterrichten wollte.

In Ihrem, soeben wieder aufgelegten Buch „Tinte ist bitter“ haben Sie ermordete, exilierte und totgeschwiegene Autoren aus Mähren, Galizien, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Triest und Bukarest portraitiert. War dieses Eintauchen in allesamt tragische Schicksale nicht ein ungemein schmerzhafter Prozess?
Wenn ich heute dieses Buch lese, das ich vor über 25 Jahren geschrieben habe, begegnet mir ein junger Mann, der mir fremd und vertraut zugleich ist. Was ihn ausgezeichnet hat: dass er auf alles, was er von der Welt hörte, ungemein kämpferisch reagiert hat mit dem Pathos der Begeisterung und dem gerechten Zorn der Empörung. Das viele, was zwischen dem Rühmenswerten und dem Verdammungswürdigen liegt, hat ihn nicht besonders interessiert. Ich habe damals für mich Autoren entdeckt, die vergessen waren und die ich für großartig hielt. Also habe ich mich auf ihre Spuren gesetzt und mich dann gleichsam ins Gefecht geworfen, um sie möglichst vielen anderen bekannt zu machen.

Das Buch ist – so wie der Fall des eisernen Vorhanges auch – 25 Jahre alt. Was ist geblieben von der Aufbruchstimmung? Was wurde aus der Hoffnung?
Zunächst: Es ist gut, dass die inakzeptable Teilung Europas, an die wir uns alle gewöhnt hatten, aufgehoben wurde. Es ist gut, dass sich die Europäische Union gebildet hat. Aber nicht alles, was seither geschehen ist, kann ich, darf ich gut finden. Was vor allem verloren gegangen ist, das ist gerade diese Aufbruchsstimmung. Die Überzeugung, dass es nun die Menschen selber sein werden, die ihre Geschichte bestimmen, im ehemaligen Osten wie im Westen. Was wir dauernd erfahren, ist hingegen das Gegenteil: dass es anonyme Märkte, ungreifbare ökonomische Mechanismen, scheinbar unbeeinflussbare Notwendigkeiten, vermeintliche Sachzwänge sind, die unsere Geschichte bestimmen. Und dass das, was wir wollen, dabei überhaupt keine Rolle spielt.

Waren Sie auch manchmal wütend, wenn Sie auf Unverständnis über ihr Interesse für die Roma oder andere Vergessene stießen?
Ich war oft wütend, aber noch öfter richtiggehend ratlos. Ich kann es ja noch verstehen, dass jemand von seinem Wohlstand nichts hergeben mag. Aber dass er gegen jene, denen es schlechter geht als ihm, blanken Hass zu empfinden beginnt, das ist mir rätselhaft. Und doch ist es so: Seit der Finanzkrise werden ausgerechnet die Ärmsten als jene geächtet, die unseren Status vorgeblich bedrohen, selbst ihren bloßen Anblick wollen viele sich ersparen, indem sie die Bettler am liebsten außer Landes verfrachten würden und unsere schmucken Innenstädte zu armutsfreien Zonen erklärten.

Es mehren sich die apodiktischen Sager der politischen Kommentatoren – auch vor dem Hintergrund der Bedrohung durch den IS – mit Europa gehe es dem Ende zu. Sehen Sie das auch so? Und wenn ja, womit geht es zu Ende?
Ich habe weiß Gott an Europa vieles kritisiert, und europäische Selbstkritik steht uns gut an. Aber ich möchte auch nicht in die pauschale europäische Schelte und Selbstzerknirschung einstimmen. Ich glaube, dass es, im Weltmaßstab gesehen, nicht nur ein großes Glück ist, in Europa geboren zu sein, sondern dass Europa der Welt auch immer noch einiges zu vermitteln hat. Nicht in dem Sinne, dass die Welt am europäischen Wesen genesen müsse, aber dass es doch Errungenschaften gibt, die man für spezifisch europäische hält und die man sich von Kritikern auf dem eigenen Kontinent und von anderen Kontinenten nicht ausreden lassen darf: das ist zum Beispiel der Sozialstaat, die Trennung von Staat und Religion, eine gewisse Solidarität innerhalb von Gesellschaften, die nicht auf den Zerfall setzen, das ist die Aufklärung. Das alles sind natürlich Errungenschaften, die bei uns selbst niemals ein für allemal gesichert sind, die immer bedroht bleiben; aber es sich doch Werte, von denen es der Welt nicht schlecht täte, wenn sie nicht als spezifisch europäische, sondern als universale Werte gälten.

Wohltemperiert zürnen. Dafür seien sie bekannt, hat Max Bläulich über sie gesagt. Was regt sie derzeit am meisten auf? Was erzürnt Sie?
Das ist, fürchte ich, eine hinterfotzige Formulierung des trefflichen Blaeulich. Denn das Wohltemperierte deutet doch an, dass es mit dem Zürnen nicht so ganz ernst ist. Allerdings: Wenn man nicht als Privatmensch seiner Empörung Luft machen, sondern als Autor aufrütteln will, muss die Sache natürlich auch ihre stilistische Qualität und spezifisch literarische Schärfe haben. Sonst bliebe es bloße Bekundung von Unmut. Was mich derzeit aufregt? Da fange ich jetzt lieber nicht an aufzuzählen, sonst bleibt das schöne Interview bei diesem Thema hängen.

In „Ruhm am Nachmittag“ bezeichnen Sie Raver als „die hübschen, hüpfenden Kinder mit den erloschenen Augen“. Und Sie sprechen vom „Trotz ohne Aufbegehren“. Sind Ihnen die Jugendlichen von heute zu angepasst, zu wenig widerständig?
Ja, definitiv. Aber die Jugendlichen von heute sind natürlich von uns – wenn jetzt auch nicht von mir persönlich -, aber von uns, meiner Generation zu dem geformt worden, was sie heute sind. Jede Generation bekommt auch die Kinder, die sie verdient, und dass die alten 68er, die dann ja doch ihren Frieden mit der Welt gemacht haben, sich heute über ihre allzu braven Kinder echauffieren, hat auch was abgründig Ironisches.

Gehen wir nach Ungarn: Jahre lang wird dort systematisch ein Freiheitsrecht nach dem anderen beschnitten. Nichts geschieht. Kaum wird das Internet besteuert, gehen die jungen Leute auf die Straße. Soll und das zuversichtlich stimmen oder Angst machen?
Das ist eine interessante Beobachtung. Kein Unrecht, keine Beschränkung bürgerlicher Freiheiten, keine Hetze gegen Minderheiten hat die Ungarn auf die Straße gebracht, die Aussicht, dass Ihnen die Nutzung des Internet etwas mehr kosten wird, aber schon. Das zeigt, dass sich die jüngeren Europäer nicht mehr so sehr als Mitglieder der altrealen Gesellschaft, sondern von digitalen Communities verstehen und sie einen Angriff auf ihren virtuellen Lebensraum als Attacke auf ihre ganz persönliche Lebenssphäre empfinden. Das ist, um Ihre Frage aufzugreifen, beides: es verheißt Hoffnung und ist zugleich erschreckend. Hoffnung, weil Revolte offenbar noch möglich ist und auch die Jungen aus ihrer Lethargie zu reißen sind; erschreckend, weil die virtuelle Welt zur einzig wahren und wichtigen für sie geworden ist.

Der Meldezettel und ein paar Freunde… Mit der Stadt, in der Sie wohnen, nichts gemein zu haben, haben Sie einmal als unbeschwertes Gefühl bezeichnet. Verhält es sich noch immer so? Und wenn ja, brauchen Sie diese unbeschwerte Distanz fürs Schreiben?
Ich habe mich seither meiner Stadt wieder angenähert. In Zustimmung und Ablehnung. Das gewissermaßen lokalpatriotische Gefühl ist einerseits erwacht, als ich die üble Hetze gegen die Bettler als Attacke auf mein eigenes Salzburg erlebte und beschloss, mich hier nicht vornehm abseits zu halten, sondern Stellung zu beziehen. Und andrerseits habe ich, nicht zuletzt auf meinen Reisen an die europäischen Ränder, schon gelernt, dass es hier in Salzburg auch einiges gibt, das gerühmt und verteidigt zu werden verdient. Ich bin Teil der Stadt und gehöre trotzdem nicht ganz dazu: das ist eine gute Stellung für jemanden, der schreibt.

Würden Sie sich selbst als Moralisten bezeichnen?
Erschrecken Sie bitte nicht: Ja. In der Tradition der literarischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, in der ich mich sehe. Hoffentlich nicht im Sine der unerträglichen Moralapostel, die uns die Lebensfreude vergällen wollen.