„Ich bin auf Traurigkeit spezialisiert“

Wien, Arbeiterberzirk Simmering. Steve Kilbey, Sänger und Bassist der legendären australischen Rock-Band „The Church“, hat zum Interview auf einer Bierbank im Innenhof der Konzertlocation „SzeneWien“ Platz genommen. Er wirkt erschöpft. Weniger vom unmittelbar zuvor über die Bühne gegangenen Konzert als vielmehr von 27 Jahren rastloser Bandgeschichte. Genussvoll zieht er an einem Joint.

Euer letztes Studioalbum „Uninvited like the clouds“ – obwohl schon 2004 eingespielt, in Deutschland erst dieses Jahr erschienen – ist sehr vielseitig und bietet einen guten Überblick über die verschiedenen Phasen eurer Bandgeschichte.
Danke. Ich finde auch, dass es ein gutes Album ist, um alle unsere Perioden zusammen zu fassen. Ich glaube sogar, es ist eines unserer besten Alben. Ob es wirklich das beste ist, kann ich nicht sagen. Meine Meinung darüber ändert sich ständig. Ich haben ein Stadium erreicht, in dem es unheimlich schwer geworden ist, sich die Dinge anzuhören und darüber zu urteilen. Wir gehen einfach raus und tun es.

Für mich sticht ein Song besonders heraus. „Block“ finde ich einzigartig.
Von allen Songs, die The Church jemals gemacht haben, ist „Block“ definitiv einer der besten. „Block“ ist einer von vielen Gründen weiter zu machen. Mit The Church ist ja nichts wirklich geplant. Mit Ausnahme der beiden Unplugged-Alben haben wir beinahe vier Jahre lang kein neues Material eingespielt. Eine viel zu lange Zeit. Es wird Zeit für ein neues Album.

Ist das vielleicht ein Rezept dafür, warum es überhaupt so lange geklappt hat?
Indem man nicht viel plante und dadurch den Druck von außen gering hielt?

Unbedingt. Wenn wir aufnehmen, haben wir nicht den geringsten Plan, kein Konzept. Wir lassen uns einfach treiben.

Deine Art zu schreiben – eine Art stream of consciousness – macht es einem nicht immer leicht, den Sinn Deiner Lyrics zu entschlüsseln. Aber vielleicht liegt das ja auch daran, dass Englisch nicht meine Muttersprache ist.
Ach, Native Speaker haben die gleichen Probleme. Die Texte sind generell schwer zu verstehen. Bei The Church geht es auch nicht um Verständnis, sondern darum, es passieren zu lassen. Nimm „Block“: Der Song geht los wie der Anfang eines Films, bei dem der Focus ganz stark auf einem seiner Protagonisten liegt, der in den Straßen steht. Und dann, Zeile für Zeile entfernt sich die Kamera von ihm, der Ausschnitt wird perspektivischer, bis es am Ende um die großen Themen Leben und Christlichkeit, Tod, einfach um alles geht, was einen starken Kontrast zum dem Typen, der am Anfang des Songs einfach in den Straßen stand, ergibt.

Es gibt keinen definierbaren Inhalt?
Jedenfalls keinen, der mehr Sinn ergäbe als ein warmer Tag oder eine dunkle kalte Nacht. Keinen Sinn, den du aufheben und mitnehmen kannst.

Ist das ein Grundprinzip eurer Musik, dass das Bild wichtiger als der Sinn ist?
Ich glaube ganz stark, dass sich Songs nicht verstehen, sondern fühlen lassen müssen. In erster Linie geht es daher nicht um Verständnis, sondern um Genuss. In einem Gedicht kannst du herum springen und schlichtweg alles tun, wonach dir ist und genau das tue ich auch. Wir sagen nichts, es gibt keine Botschaft als solche, sondern bloß eine Art Gefühl, das die Leute genießen können.

Seit den frühen Tagen von „Remote Luxury“ (Album aus 1984, Anm.) fühlte ich immer einen ganz starken Eskapismus in Deiner Lyrik.
Das ist auch heute noch so.

War dieser Fluchtgedanke Teil der Philosophie?
Eskapismus und Transzendenz sind unbedingt positiv. Meine Texte tragen jenes Maß an Mehrdeutigkeit in sich, die es jedem ermöglicht, sie auf seine persönliche Art zu interpretieren – ähnlich einem After Shave oder einem Parfum, das bei jedem anders riecht. Deshalb ist es auch so schwer, nachträglich zu definieren, worum es in einem spezifischen Song geht, denn mittlerweile haben ihn die verschiedensten Leute in Besitz genommen und in ihr Leben eingepasst. Wen ich etwas Definitives sagen hätte wollen oder als gut oder schlecht bewerten hätte wollen, wäre ich Journalist oder Schriftsteller geworden. Songwriting ist anders. Du kannst mit einem einzigen Song eine Menge Ziele erreichen, ohne dabei wirklich etwas zu sagen. In meinen Texten geht es darum, Leute zu einem Platz zu führen, eine Tür für sie zu öffnen, sie herein zu lassen und sie an diesem Platz tun zu lassen was immer sie wollen. Songs sind wie ein Sprungbrett oder ein Gang zu diesem Platz, der die Worte mit den eigenen Erfahrungen verbindet. Dorthin werden die Wörter transzendiert, dort wirken sie nach. So in der Art stelle ich mir das vor.

Ist es möglich, in dieser surrealen Umgebung nach der Wahrheit zu suchen, sie vielleicht sogar zu finden?
Ich denke, kraftvolle Musik kann Leuten helfen, etwas für sich zu entdecken. Ob sie glauben oder nicht, ob sie Krieg gut finden oder nicht. Schwierige Entscheidungen haben oft sehr abstrakte Hintergründe. The Church kann vielleicht helfen, Dinge zu realisieren, indem wir Möglichkeiten aufzeigen. Zu einer Lösung aber müssen die Leute schon selbst finden. Wir sagen nicht ein Wort, das dich davon abhalten könnte, dir deine eigene Meinung zu bilden. Und genau das ist es, was die Leute genießen.

In Deinem Weblog hast Du Dich mit großem Selbstverständnis dazu bekannt, verbittert zu sein, was mich erkennen ließ, Bitterkeit und Verbitterung immer als einen Bestandteil der Weltsicht von The Church begriffen zu haben.
Auf jeden Fall. Das meiste von dem, was in meine Poesie fließt, stammt aus den Nachrichten. Da ist es nur natürlich, dass Verbitterung mitschwingt. Manchmal allerdings dramatisiere ich in meinem Blog absichtlich und übertreibe, um Geschichten interessanter zu machen. Manchmal stelle ich mich daher auch verbitterter dar, als ich tatsächlich bin. Das ist mitunter auch notwendig, um die Leute zum Nachdenken über die Musikindustrie oder ähnliches zu bewegen. Nicht alles ist reell und wahr – ähnlich den Songtexten. Ich empfinde mein Leben als Leinwand, auf die sich allerhand auftragen lässt. Der Weblog ist eine Form der künstlerischen Annäherung an mein leben, eine Art künstliche, künstlerische Lizenzierung von Sex und Leben.

Du hast vorher kurz die Musikindustrie angesprochen. In einem alten Song „Pharoah“ gibt es die für Dich ungewöhnlich konkreten Zeilen „Hi to all the people that are selling me. Here´s one straight from the factory […] One big man with a goood connection takes the whole damn ship in the wrong direction. I don´t mind him misinterpreting me, but I hate it, when he gets us lost to sea.“ Ist das als zusammenfassendes Statement über die aus dem Umgang mit der Industrie entstandenen Lehren gedacht?
Unbedingt, ja. Nach dem enormen Erfolg von „Starfish“ (*) wollten uns unheimlich viele Leute erklären, was genau wir jetzt zu tun hätten. Man riet mir sogar, meinen Bart abzurasieren, weil das die Fans nicht mögen würden. Sogar zu unseren Bandproben erschienen plötzlich allerhand merkwürdige Leute, die uns rieten: „Schreib doch eher solche Songs, dreh die Gitarre nicht so laut, tu dies, lass das…“ Mein Bruder spielte in Australien einmal in einer Band, die kurz vor dem Durchbruch stand. Bevor sie noch ihr Album fertig hatten, gab die Plattenfirma einzelne Songs an Radiosender weiter, um auszutesten, ob die Sender sie spielen würden. Als sich die Sender überwiegend weigerten, wurde das ganze Projekt gecancelt. Da ist ein Punkt erreicht, an dem sich das ganze System selbst ad absurdum führt. Diese Form der Kurzsichtigkeit ist noch abscheulicher als der Umstand, dass du nicht bezahlt und betrogen wirst.

Ist es diese ganz bestimmte Ignoranz, die Dich besonders ärgert?
Das sind einfach Leute ohne jede künstlerische Veranlagung, die nicht wissen, wie man einen Song aufnimmt, geschweige denn ihn schreibt. Und diese Leute schubsen dich herum und erklären dir, wie es richtig geht. Klar ärgert mich das.

Habt ihr es geschafft, unabhängig zu bleiben? Oder gab es Momente, in denen ihr die Kontrolle verloren hattet?
Wir waren schon bei großen Companies gesignt, hatten dort aber immer unsere Probleme. Es war ein ständiger Kampf, weil wir uns nie einreden lassen wollten, was wir zu tun und wen wir zu treffen hätten. Die dachten immer, dass wir ein gutes Stück mehr kommerziell sein hätten können, als wir es jemals waren und wollten und dass besonders ich sie durch meinen Eigensinn absichtlich ruinieren wolle. Aber so war es ja gar nicht. Ich bin einfach immer meinen Instinkten gefolgt und habe getan, was ich für richtig hielt. Wenn wir das getan hätten, was uns diese Leute rieten – da bin ich ganz sicher – gäbe es The Church längst nicht mehr. Die versuchen doch immer, dich 1984 nach 1984 und 1995 nach 1995 klingen zu lassen. „Warum macht ihr keinen Grunge, warum nicht ein wenig mehr in Richtung New Romanticism?“ Solche Ratschläge sind nichts weiter als Müll, weil nur The Church wissen können, wie The Church zu klingen haben.

Ärgert es dich auch, wenn Du noch immer auf „Starfish“ und „Under the Milky Way“ angesprochen wirst?
Kommt ganz darauf an, von wem. Einmal waren wir in einem Radiosender in den USA. Die hatten uns gesagt, wir könnten einen alten und einen neuen Song spielen. Als wir dann dort waren, sagten wir, zuerst würden wir gern „Under the Milky Way“ spielen. Großartig. Das gefiel ihnen. Naja und anschließend würden wir was Neues spielen. „OK, vielleicht…“, meinten sie da. Was soll das heißen, vielleicht, fragte ich. Naja, eigentlich wäre es ihnen lieber, wir würden nur „Milky Way“ spielen. Das ganze Interview drehte sich dann auch nur um „Milky way“. Wie fühltest du dich, als es ein Hit wurde? Großartig sagte ich. Was dachtest du, als du die Zeilen … schriebst… Nach zehn Fragen hatte ich endgültig genug und forderte ihn auf, uns doch auch mal was anderes zu fragen. Über was auch immer. Da meinte er, „Under the Milky Way“ sei einfach die einzige Platte von uns, die in ihrem Radio gespielt würde. Deshalb wollten sie auch nur darüber mit uns reden. Da wurde ich wirklich wütend und verließ die Radiostation, worauf uns der Sender später schriftlich mitteilte, dass sie jetzt auch „unseren Song“ Under the milky way nicht mehr spielen würden. Und nicht nur das. Sie riefen auch eine ganze Reihe anderer Radiostationen an, die daraufhin unseren Song auch nicht mehr spielten. In solch dumme Situationen gerate ich leider immer wieder. Weißt Du, so lange es Teil des Ganzen ist und nicht das Ganze, rede ich gerne darüber. Also wenn Du über Starfish reden willst, nur zu.

Jetzt trau ich mich nicht mehr.
(lacht) Nein, wirklich kein Problem. Schau, Du hast zuerst nach unserem neuen Album gefragt. Wenn Du mit Starfish angefangen hättest und zwanzig Minuten später hätten wir immer noch über Starfish geredet, wäre ich wahrscheinlich irgendwann aufgestanden. Aber so ist das schon ok.

Ist es denn nicht logisch, zunächst nach dem aktuellen Werk zu fragen und dann von diesem ausgehend ältere Dinge zu beurteilen, Verhältnisse herzustellen etc.?
Wenn du siebenundzwanzig Jahre unterwegs bist, musst du auf alles vorbereitet sein. Also auch darauf, über einen alten Song zu reden, aber eben nicht ausschließlich darauf. Wenn dich nämlich jemand darauf fixieren will, dass das Beste, was du jemals gemacht hast zwanzig Jahre zurück liegt, dann musst du dich schon dagegen wehren.

Zumal es nicht so ist. Ich finde „Starfish“ ist bei weitem nicht euer bestes Album
Eben.

Mitte, Ende der 80er wart ihr wirklich berühmt, in den 90ern verlor ich The Church ein wenig aus den Augen. Und dann kam dieses Album „Forget Yourself“, auf das ich zufällig stieß und das mich schlicht umwarf. Und obwohl ihr in den 90ern auch keine schlechten Platten veröffentlicht habt, war das für mich eine Art Comeback. Aber „Comeback“ ist vielleicht das falsche Wort.
Eine Rückkehr zu alter Form?

Ja. Klingt wesentlich besser.

Wie kam es dazu?
Nachdem ich lange in Europa uns den USA gelebt hatte, ging ich wieder zurück nach Australien. Ich war sehr aufgeregt darüber, wieder in Australien zu leben. Schau, nicht nur Du, auch ich habe in den 90ern ein wenig das Interesse an der Band verloren. Wie in jeder Beziehung hat auch jede Band ihre Ups und Downs. Das ist wie mit dem Instrument: Ich spiele jetzt seit vierzig Jahren Bass. Manchmal macht mich das regelrecht krank, weil ich mir nicht vorstellen kann, dem Instrument noch irgendetwas Neues, etwas von Belang zu entlocken. Und dann hat man plötzlich wieder diese ganz speziellen Aha-Erlebnisse, wo man merkt, dass man sich niemals träumen ließ, was man mit einer Bassgitarre alles anstellen kann. Mit dem Singen oder dem Schreiben ist es das Gleiche. Auf Forget Yourself habe ich wieder entdeckt, dass ich The Church mag und es genieße, mit den Jungs Platten aufzunehmen. Es war Sommer und es lag dieses ganz spezielle „The sky is the limit“-Feeling in der Luft. Und diese Aufgeregtheit spürt man auch auf der Platte. Ich glaube, dass in den 90ern eine Menge Leute das Interesse an The Church verloren, was irgendwie auch unsere eigene Schuld war, weil wir uns in und mit The Church langweilten. Außerdem habe ich mich persönlich lange in meiner Drogenabhängigkeit verloren. „Forget Yourself“ markierte den Beginn einer neuen Periode, in der wir alle wieder Lust verspürten, gemeinsam etwas zu bewegen. Die Platte davor ist im Vergleich dazu richtig poliert. Sie rockt überhaupt nicht. „Forget Yourself“ rockt.

Habt ihr euch überhaupt jemals als Rockband gefühlt?
Ich bin fast 53 und habe mein leben lang Rock gemieden. Ich habe mich auch nie als Rockmusiker gefühlt. Wenn überhaupt wollte ich Rock nur als Vehikel benutzen, um obskur sein zu können. Rock benutzen, ohne zu rocken (lacht). Erst in den letzten Jahren haben wir gemerkt, dass wir eigentlich eine wirklich gute Rockband abgeben. Es klingt vielleicht dumm, aber manchmal braucht es eben seine Zeit, bis man merkt, dass man tatsächlich rockt. Und jetzt bin ich ein alter Rocker, aber nicht im Chuck Berry- oder Stones-Style, sondern eben mehr auf die Church-eigene Weise. Intellektuell, surreal und poetisch. Ich hasse AC DC. Es gibt einen Weg zu rocken und dabei trotzdem intelligent zu bleiben.

Ihr benutzt zwar das Songformat, mitunter fühlt man aber eine Art Auflösung, obwohl ihr euch nicht wirklich weg davon bewegt.
Es ist dieses eigene Ding, das wir immer getan haben und das schwer zu beschreiben ist. Man kann es vielleicht sanfte Subversion nennen. Manch einer glaubt, dass es Rock ist, in Wirklichkeit ist es viel, viel spiritueller. Wobei Spiritualität ein umstrittenes Wort ist.

Bist Du religiös?
Nicht im christlichen Sinn. Irgendetwas aber gibt es da draußen und Musik ist ein Weg, es zu beschreiben. Die Kombination aus Wörtern, Sounds und Akkorden kann Herz und Hirn öffnen. Genau das passiert vielen Leute, wenn sie The Church hören. Im Nachhinein können sie es schwer beschreiben. Es ist wie LSD, in die Kirche gehen oder in Zungen sprechen… eine Verlagerung. Etwas zu verstehen, was man vorher nicht verstanden hat, einen Moment der Einheit mit dem Publikum und der Band zu spüren, die man vorher noch nie gespürt hat. Es ist verrückt, wonach wir suchen und eine Menge Leute haben für Subtilität auch einfach keine Zeit. Die meisten wollen Bier trinken, tanzen und gröhlen. Wir sind für Leute da, die mehr wollen als nur das.

Glaubst du, dass es möglich ist, auch diese einfachen Gemüter zu erreichen?
Nein.

Ist es Dir denn gar nicht wichtig, auch diese Leute zu erreichen?
Ich denke nicht, dass sie´s kapieren. Schau Dir die Filme an, die funktionieren oder die Restaurants, die funktionieren. Es ist doch immer das Offensichtlichste, Größte und Mächtigste, das ankommt. Mac Donalds verkauft Millionen von Hamburgers. Und direkt neben einer Mac Donalds-Filiale gibt es ein kleines Restaurant, das vegetarische High-Cuisine um den gleichen Preis verkauft. Und dort gehen nur die rein, die das schätzen. Genauso funktionieren The Church. Wir sind ein kleines Restaurant, umgeben von vielen großen. Ein Familienunternehmen, dessen Angestellte es aus Liebe machen. Aber wir können keine Hamburger und möchten es noch nicht einmal versuchen.

Hängt Erfolg nicht auch mit dem vermeintlich Simplen zusammen, mit dem Heucheln, dass alles einfacher und homogener ist als es tatsächlich ist?
Nein. Nimm „Univited like the clouds“, unser letztes Album. Nichts darauf ist kompliziert. Vielleicht sind manche Textzeilen surrealer als es manche Leute mögen. Aber die Musik ist insgesamt sehr straightforward. Besonders erfolgreich sind wir aber nicht. Aber wäre es nicht auch seltsam, wenn wir in dem Stadium, in dem wir uns jetzt als Band befinden, den Durchbruch in den Massengeschmack vollzögen? Wir hatten unsere Chance. In „Under the Milky way“ kollidierten The Church und der Mainstream für drei Minuten. Und das war dann auch genug. Wie bei einer guten Fernsehshow, bei der Du Dich fragst, was um alles in der Welt sie inmitten dieser Detekiv-, Reality und Quiz-Scheiße macht. Neulich bekam ich ein E-mail von einem Typen, der meinte, er liebe unsere Musik, aber seine Freundin werde immer schläfrig, wenn sie uns höre. Ist das nicht wunderbar? Für mich ist das ein Riesenkompliment.

Wenigstens eine wirklich direkte Reaktion… Hörst Du selbst viel Musik? Bist Du ein Sammler?
Kein Sammler, der Platten kauft, weil sie auf einem bestimmten Label erschienen sind, obwohl er die Musik selbst überhaupt nicht mag. Ich liebe Krautrock. Ich mag, was die Deutschen mit Rockmusik machten. Ohne irgendeine Verbindung zum Blues. Die nahmen Rockinstrumente und kreierten damit ihre eigene Musik. Eigentlich eine Art Missverständnis. Und dann war da plötzlich etwas völlig Neues entstanden. Vergleich Amon Düül oder Popol Vuh mit Guns n´Roses oder den späten U2 oder dem ganzen Boybands-Kram, bei dem du dir am liebsten die Ohren vom Kopf reißen möchtest.

Magst Du Kraftwerk?
Ich liebe Kraftwerk. Und Can. 1982, als wir nach Deutschland kamen, trafen wir Holger Cszukay in einem Kölner Cafe. Am nächsten Tag Amon Düül, die im gleichen Hotel wohnten wie wir. Bei diesem Treffen war ich aufgeregter, als wenn ich David Bowie getroffen hätte.

Hattet ihr jemals die Idee, einen Song zusammen aufzunehmen?
So weit kam es nicht. Früher war das viel schwieriger. Heute könnten wir Holger Csukay in Wien treffen und ein paar Tage später schickt er mir per E-mail ein File, das ich dann bearbeite und so weiter. In den 80ern brauchtest du Geld für ein Studio und sofort stand eine Firma auf der Matte, die dir dann schon mitteilte, was sie von einer Zusammenarbeit mit einer Krautrockband halte. Wenn ich heute einen meiner Helden träfe, würde ich geradeheraus fragen, ob wir nicht gemeinsam etwas machen wollen. Genauso wie Holger Cszukay einer meiner Helden ist, bin ich für andere der Held. Blank & Jones etwa, eine deutsche Chillout-Band, die mich fragten, ob ich nicht zu einem ihrer Songs singen würde. „Revealed“. Die haben dann übrigens auch gefragt, was denn das alles zu bedeuten habe, was ich da sang. Ich hab ihnen dann die ausgedruckten Lyrics geschickt. (lacht) Heute ist es viel leichter geworden, zu kollaborieren. Heute arbeite ich an den verschiedensten Dingen mit den verschiedensten Leuten.

Ist es denn als glücklicher Familienvater jenseits der 50 schwieriger geworden einen Song wie „Song to go“, der sehr morbide und traurig ist, zu schreiben?
Nein. Ich bin auf Traurigkeit spezialisiert. Ich bin glücklich, wenn ich traurige Lieder schreiben kann. Deshalb sind traurige Lieder ja so wichtig: Weil sie Leute glücklich machen können. Das ist widersprüchlich und paradox. Zu den traurigen Songs kehrst du dein Leben lang zurück. Zu vielen meiner Lieblingsliedern kehre ich nun schon seit vierzig Jahren zurück. Mitunter, weil ich noch immer nicht verstanden habe, wie sie funktionieren. Zur Hit-Single, bei der alles klar und deutlich ist und die dir alles, was sie hat, beim ersten Mal hören gibt, wirst du nach Jahren nicht zurück kehren. Wir machen Platten, die in Thailand, Ägypten und Österreich gleichermaßen gehört werden, weil sie wie bei einem Film mit vielen Querverweisen und vielen kleinen Details gespickt sind, die erst in Slow Motion erkennbar werden. Das soll für den Rest des Lebens dauern. „Blood on the tracks“ von Bob Dylan werde ich mir mit 100 auch noch anhören. Ich weiß bis jetzt noch nicht, wie er´s gemacht hat.

Und wenn Du es herausgefunden hast, würdest Du dann das Interesse verlieren?
Das glaube ich nicht. Aber es wird anders. Die Frau, die für Dich kein Geheimnis mehr birgt, wirst du vielleicht nicht mehr so begehren, aber lieben wirst du sie trotzdem noch.

Du bist über 50 und es ist dir scheißegal, schreibst Du in Deinem Blog. Ist das die Einstellung, die gut für eure Spätphase ist? Ich meine damit: Es gibt einige Bands, die in ihren 30ern sehr erfindungsreich waren, sich in den 40ern verloren und in den 50ern wieder zu Hochform aufliefen, weil ihnen plötzlich einfach einiges egal war…
Als ich anfing, hatte ich einen genauen Image-Plan, wie ich zu reden und auszusehen hätte. Manchmal war ich richtig unfreundlich. Nicht, weil ich ein unfreundlicher Mensch wäre, sondern weil ich dieses Bild von mir hatte, wie ich mich als Rockstar zu verhalten hätte. Ein Image, das sich aus Leuten zusammen setzte, die mich beeinflussten: David Bowie, Bob Dylan, John Lennon. Die hab ich alle zusammengewürfelt zu diesem Charakter, der ich sein wollte. Erst vor ein paar Jahren habe ich realisiert, dass ich nicht mehr dieser Charakter sein will. Wenn ich auf der Bühne rocken will, dann rocke ich verdammt noch mal. Kühl, distanziert, modern – was immer ich sein wollte, habe ich abgestreift. Und ich glaube, mein wirkliches Ich ist interessanter als dieser Patchwork-Charakter, den ich kreierte. Natürlich kommen auch manche Leute und meinen, sie hätten mich mehr gemocht, als ich noch keinen Blog hatte, sie noch nicht so viel über mich wussten, als die Lieder noch vom Himmel fielen.
Es ist wie bei einem Magier, der seinen Trick erklärt. Natürlich kamen die Leute vorher, weil sie nicht wussten, wie der Trick funktioniert. Aber dieses Geheimnis will ich nicht mehr sein. Genau das sind die Widersprüche, die das Leben einer Band ausmachen. Zu freundlich, zu unfreundlich, zu altbacken, zu modern, zu professionell, zu amateurhaft etc. etc. Wie bei einem Schiff, das man auf Kurs halten muss. Man muss zwar alles in die Waagschale werfen, aber nicht alles zu ernst nehmen, was die Leute rund um dich so meinen. Man muss die Freundschaft zu den anderen Bandmitgliedern pflegen und ihnen dabei helfen, ihrerseits die Freundschaft zu bewahren. Eine Menge der Probleme bei The Church resultierten daraus, dass ich in den 80ern zu viel Kontrolle hatte und in den 90ern zu wenig, weil mich meine Drogenprobleme auf Trab hielten. Es geht immer darum, die Balance zu halten: Offen, aber nicht zu offen. Freundlich, aber nicht zu freundlich, weil das auch nicht funktioniert. Zuhören, aber nicht zu viel zuhören. Aber: was immer du als nächstes machst: irgendjemand wird es nicht mögen.

Inwieweit musste die Freundschaft zwischen Dir und den anderen Bandmitgliedern funktionieren, um den Weiterbestand von The Church zu garantieren?
Das ist ein sehr heikles Thema. Sobald man die Freundschaft mit einem vertieft, distanziert man sich gleichzeitig von den anderen. Das Leben innerhalb einer Band ist Balanceakt und bei weitem nicht so einfach, wie man sich das gemeinhin so vorstellt. Auch der Prozess, die richtigen Songs für Wien, wo wir noch nie gespielt haben, auszusuchen, spiegelt das wider. Wenn jemand kommt, was will er hören? Das Alte, das Mittelalte, das Neue, das Aufregende, das Besondere? Da gab es intern eine Menge Diskussionen. Nimm zum Beispiel „Telepath“, einen Song, den viele Leute mögen, aber Marty will ihn einfach nicht spielen. Jede Entscheidung ist ein Kompromiss. Mir persönlich wäre es egal, ich würde auch nur neue Nummern spielen, aber ältere Semester wie Du wollen such Titel von Alben wie „Remote Luxury“ oder noch älteren Werken hören. (lacht) Wir hätten um die 400 Songs in peto. Spielen können wir aber nur rund 20.

Vielen Dank für das Gespräch.